Was sich kusst das liebt sich
Blick zum Schweigen. » Es geht um Neve und eine Frau namens Lucy Keener, die vor ein paar Jahren gestorben ist«, fuhr sie fort. » Keines ihrer Werke wurde je veröffentlicht…«
» Äh, doch, zwei ihrer Gedichte wurden in Time and Tide abgedruckt«, mischte sich Neve ein, verstummte aber, als ihr Al ice , eine der Teilzeitkräfte, warnend in den Oberschenkel kniff.
» Aus diesem Grund kam Mr Freemont wohl zu dem Schluss, dass das literarische Erbe von Lucy Keener keinen Platz im LLA verdient hat«, sagte Rose, als hätte sie Neves Einwand nicht gehört. » Diese Entscheidung ist zwar verständlich, aber wir sind der Auffassung, dass sie noch einmal überdacht werden sollte.«
» Wir sind alle unbedingt dafür, und zwar dank Neve, die sich unermüdlich für Lucy Keener eingesetzt hat«, schaltete sich Philip ein, sobald Rose geendet hatte, und Neve hegte auf einmal den Verdacht, dass sie das so geprobt hatten, denn nun fing Chloe damit an, wie begeistert sie alle von Mein Tanz am Rand der Welt gewesen waren.
Schweigend saß sie da, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren, während alle anderen Angestellten in das Loblied auf Lucy Keener einstimmten. Sie wusste nicht, ob sie sauer sein sollte, weil sie diese kleine Inszenierung hinter ihrem Rücken geplant hatten, oder ob sie lieber aufspringen und jedem Einzelnen um den Hals fallen sollte. Sie selbst hätte niemals den Mut gehabt, mit der Causa Keener vor die Kuratoren zu treten.
» Neve schreibt sogar bereits an einer Biografie über Lucy Keener «, schloss Philip stolz. » Stimmt’s, Neve?«
» Naja, Biografie würde ich es nicht nennen«, murmelte sie mit gesenktem Kopf und starrte auf die Krümel, die Mr Fremont auf dem Tisch hinterlassen hatte. » Ich habe einfach mal mit ihrem Lebenslauf angefangen und versucht, ihre Korrespondenzen mit ihren Tagebüchern zu kollationieren, und dann… Naja, dann hat irgendwie eines zum anderen geführt.« Sie runzelte die Stirn und verstummte.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann hustete jemand, und als Neve den Kopf hob, sah sie, wie Mary Vickers sie aufmunternd anlächelte. Sie hatte zur Abwechslung sogar Jacob Morrisons Aufmerksamkeit, was aber nicht unbedingt positiv sein musste.
» Tja, Neve, dann erzählen Sie uns doch mal ein bisschen über die mysteriöse Lucy Keener und ihr unveröffentlichtes Werk«, forderte er sie auf.
Sie stotterte ein wenig herum, zählte ein paar chronologische Fakten auf, dann brach sie ab. Das konnte doch nicht so schwierig sein. Sie musste hier ja schließlich keine Quadratwurzeln ermitteln. Reiß dich zusammen, das bist du dir selbst und vor allem Lucy Keener schuldig, dachte sie. Danach war es ein Kinderspiel.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie sprach. Irgendwann entschuldigten sich die Teilzeitkräfte, und Rose erhob sich, um das Licht anzuknipsen, aber als Neve schließlich bemerkte, dass sie schon ganz heiser war, versuchte sie, zum Ende zu kommen.
» …und sie schämte sich für Charles, weil er sein Land verraten und für den KGB gearbeitet hatte, zugleich fühlte sie sich jedoch dafür verantwortlich, denn sie war es gewesen, die ihm den Sozialismus nähergebracht hatte. Als er seine Frau und seine Familie zurückließ, um nach Russland zu gehen, begleitete sie ihn, um mit ihm zusammen sein zu können. Doch sie war entsetzt von den Zuständen in Russland und kehrte zwei Jahre später in die Heimat zurück. Dort wurde sie als Landesverräterin und Ehebrecherin von der Gesellschaft geächtet. Dass der Mann, mit dem sie durchgebrannt war, der obersten Schicht angehört hatte, machte alles nur noch schlimmer. Es dauerte dreißig Jahre, bis sie wieder anfing zu schreiben, und ihre letzten Gedichte und Kurzgeschichten sind… geradezu herzzerreißend.«
Neve verstummte und schluckte schwer. Sie war selbst überrascht von der Emotionalität, mit der sie gesprochen hatte. Alles schwieg, und sie lächelte schief und wartete darauf, dass jemand etwas sagte.
» Diese Frau scheint Sie ja sehr zu berühren«, stellte Harriet Fitzwilliam-White fest. Es war das erste Mal, dass sie das Wort an Neve gerichtet hatte. » Ich wusste zwar, dass Holden übergelaufen war, und es wurde angedeutet, dass ihn eine Frau begleitet hat, aber ihr Name wurde nie erwähnt.«
» Nun, die Familie seiner Ehefrau Laura war sehr gut vernetzt und hat alles unternommen, um zu unterbinden, dass Details an die Öffentlichkeit gelangten«, erklärte Neve. » Dass Charles sein Land verraten hatte,
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