Was sie nicht weiss
›weg‹ ist – nicht körperlich, sondern geistig oder seelisch.«
»Das heißt also, das Kind entzieht sich, indem es sich sozusagen wegdenkt?«
»So ähnlich. Ich habe etliche Patientinnen, die in jungen Jahren missbraucht wurden und bei denen die Erinnerung daran nur im Unterbewusstsein vorhanden ist.«
»Aber nicht jedes Missbrauchsopfer entwickelt eine DIS .«
»Auf keinen Fall. Deshalb ist die Störung unter Psychiatern sehr umstritten und außerdem noch kaum erforscht. Wir wissen, dass sie vorkommt, und kennen die Auslöser, aber warum es bei einigen dazu kommt, bei den meisten aber nicht, das weiß keiner. Vermutlich ist es eine Frage der Veranlagung. Manche Menschen sind genetisch so disponiert, dass sie anfälliger für psychische Erkrankungen sind als andere. Bei ihnen ist, wenn man es so ausdrücken will, der Nährboden vorhanden.«
»Verstehe«, sagt Lois. »Und wenn sie als Kinder ein Trauma erleiden, kann es zu solch einer Störung kommen. Ist das auch noch später möglich, zum Beispiel bei einem Mädchen um die fünfzehn?«
»Mir ist kein Fall bekannt, aber kategorisch ausschließen würde ich es nicht. Wenn ein Mädchen als Teenager etwas unerträglich Schlimmes erlebt und vorgeschädigt oder sehr labil ist, könnte das eventuell sein«, sagt Onno mit einem Nicken. »Es verhält sich nämlich so, dass die Teil persönlichkeiten – man nennt sie Alter Egos oder Alters – der Betroffenen in ihrer Notlage zu Hilfe kommen. Je schlimmer Letztere ist, desto mehr Alter Egos können es sein. Sie fungieren dann als Träger eines Teils der traumatischen Erinnerungen, sodass es dem Opfer selbst möglich ist, normal weiterzuleben. Das heißt, einigermaßen normal. Denn dass es zur Bildung mehrerer Persönlichkeiten gekommen ist, auch wenn man sich dieser nicht unmittelbar bewusst ist, hat natürlich Folgen.«
»Was für Folgen?«
»Dass man, wie schon gesagt, Erinnerungslücken hat.« Onno beugt sich vor, um für Lois und sich wieder etwas Käse abzuschneiden. »Die Alter Egos übernehmen für kür zere oder längere Zeit die Regie. Manchmal ist das harmlos. Einem Außenstehenden fällt dann beispielsweise auf, dass die betreffende Person anders ist als sonst, und er interpretiert es als Stimmungsschwankung, wenn das an sich gut gelaunte, selbstbewusste Gegenüber plötzlich deprimiert und schüchtern wirkt. Ich hatte mal eine Patientin, deren Alter Ego an der Arbeitsstelle den Vorgesetzten schwer beleidigte. Als die Frau sich tags darauf nichtsahnend an ihren Büroschreibtisch setzte, lag dort das Kündigungsschreiben.«
Lois horcht auf. »Hältst du es für denkbar, dass so ein Alter Ego einen Mord begeht und die eigentliche Person nichts davon weiß?«
»So einen Fall kenne ich zwar nicht, aber warum nicht? Wenn es so wäre, hätte eure Verdächtige diesbezüglich vielleicht eine Vermutung, aber keine wirkliche Erinnerung.«
38
Ein paar Minuten vergehen, während derer Lois und Onno ihren jeweils eigenen Gedanken nachhängen.
»Vor Gericht sind solche Fälle äußerst heikel«, durchbricht Onno das Schweigen. »Dass Angeklagte Erinnerungslücken vortäuschen, dürfte dir als Polizistin nicht neu sein.«
»So was kenne ich, ja. Zum Glück kommen die wenigsten damit durch. Bei der Frau, die wir suchen, könnte sich die Störung jedoch beweisen lassen. Sie besitzt nämlich stapelweise Psychologiebücher, deshalb vermute ich, dass sie um ihre Störung weiß und sich damit auseinandersetzt.«
»Es sei denn, sie ist besonders durchtrieben und informiert sich über die Symptome, um die Störung glaubhaft simulieren zu können. Was genau ist dir denn an ihr aufgefallen?«
Lois erwähnt ihren zweiten Besuch bei Maaike, als diese sie und Claudien unerwartet schroff abfertigte, und kommt dann auf die Kinderzeichnung zu sprechen, die ihr später in die Hände fiel.
»Zwei weitere Persönlichkeiten also«, stellt Onno fest. »Möglicherweise sind es noch mehr.«
»Und eine davon mordet.«
Onno runzelt nachdenklich die Stirn. »Was wisst ihr über die Vergangenheit der Frau?«, fragt er.
»Ihre Eltern sind bei einem Unfall umgekommen, als sie elf war. Sie selbst wurde dabei verletzt und war längere Zeit mit den toten Eltern im Autowrack eingeklemmt. Danach haben ihre Großeltern sie aufgenommen, und mit vierzehn Jahren wurde sie auch noch Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Eine tragische Geschichte.«
»Das kannst du laut sagen, da ist wirklich sehr viel zusammengekommen.«
»Genug für eine
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