Was sie nicht weiss
vorgestellt. Sie unterdrückt ein Grinsen.
»Ich hab dich vom Fenster aus gesehen. Schön, dass du da bist. Komm rein.«
Er lächelt so strahlend, dass sie fast schon ein schlechtes Gewissen bekommt. Sie tritt in die Diele und erwidert seine Wangenküsse.
Während Onno ihr den Mantel abnimmt und ihn zur Garderobe trägt, späht sie durch die offene Tür ins Wohnzimmer.
Obwohl sie klipp und klar gesagt hat, dass es um eine dienstliche Angelegenheit geht, scheint ihm eher ein gemüt liches Beisammensein vorzuschweben: Auf dem Couchtisch brennen Kerzen, daneben stehen eine Käseplatte, ein Körbchen mit Baguettescheiben und eine Flasche Rotwein.
»Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich eine Kleinigkeit vorbereitet habe.« Onno fordert sie mit einer Geste zum Eintreten auf.
»Sicher, nur den Wein lasse ich lieber weg.«
»Weil du noch arbeiten musst?«
»Das auch, aber ich trinke grundsätzlich keinen Alkohol.«
Erstaunt sieht er sie an. »Hast du bei Guido nicht … nein, da hattest du Orangensaft. Gibt es einen Grund für deine Abstinenz, oder magst du schlicht keinen Alkohol?«
»Ich mach mir nichts draus.« Lois nimmt auf dem braunen Ledersofa Platz, neben dem ein weißer Wollteppich auf dem Parkettboden liegt. Das prasselnde Kaminfeuer verbreitet wohlige Wärme und Behaglichkeit. Entspannt lehnt sie sich zurück.
»In solch einer Atmosphäre ist ein Glas Rotwein wahrscheinlich das Tüpfelchen auf dem i«, sagt sie.
»Ich will dich keineswegs verleiten, schon gar nicht, wenn du noch arbeiten musst. Was darf’s denn sein? Ich hab Saft, Eistee …«
»Eistee bitte.«
»Fein, da halte ich mit.« Onno wendet sich zur Tür.
»Meinetwegen brauchst du nicht auf deinen Wein zu verzichten«, sagt Lois schnell.
»Keine Sorge, ich komme schon zu meinem Glas. Erst einmal reden wir über die Sache, wegen der du gekommen bist.«
Sie hört Onno in der Küche hantieren. Kurz darauf kommt er mit zwei vollen Gläsern wieder.
»Du machst zurzeit viele Überstunden, nicht wahr?« Er stellt die Gläser auf den Couchtisch und setzt sich in den Sessel Lois gegenüber. »Das ist bestimmt sehr anstrengend.«
»Ist es, aber hin und wieder habe ich einen Abend oder einen ganzen Tag frei. Der Sache wäre ja nicht gedient, wenn keiner von uns mehr leistungsfähig ist.«
Onno schneidet ein Stückchen vom Brie ab, legt es zusammen mit zwei Baguettescheiben auf einen Teller und reicht ihn Lois.
»Das glaube ich gern. Hoffentlich ist der Fall bald gelöst.«
»Das hoffe ich auch. Allerdings ist unsere Hauptverdächtige geflohen. Wir fahnden natürlich nach ihr, aber wenn sie das Land bereits verlassen hat, dürfte es schwierig werden, sie aufzuspüren.«
»Ist sie psychisch krank? Am Telefon hast du gesagt, du wolltest etwas über die DIS wissen. So kürzen wir die Dissoziative Identitätsstörung ab.«
»Wir nehmen stark an, dass sie krank ist, denn es deutet einiges auf solch eine Störung hin.« Lois trinkt von ihrem Tee und stellt das Glas wieder ab.
»Was genau möchtest du wissen?«
»Alles. Was solch eine Störung auslöst, wie sie sich äußert, ob sie therapierbar ist und so weiter.«
»Tja …« Onno schlägt die Beine übereinander und überlegt kurz. »Dann fange ich mal mit dem Grundsätzlichen an. Als Dissoziationen bezeichnet man, grob gesprochen, Bewusstseinsstörungen. Anklänge daran kommen vielfach im Alltag vor. Man ist zum Beispiel so in Gedanken versunken, dass man wie ferngesteuert und ohne die Umgebung wahrzunehmen eine Strecke mit dem Auto zurücklegt oder man sitzt da und merkt plötzlich, dass schon eine halbe Stunde vergangen ist und nicht nur wenige Minuten, wie man gedacht hat. So etwas ist natürlich nicht krankhaft. Bei Menschen mit einer DIS verhält es sich anders. Die Erkrankung hat man früher übrigens Multiple Persönlichkeitsstörung genannt, weil die Patienten mehrere unterschiedliche Persönlichkeiten haben, die abwechselnd in den Vordergrund treten und die Kontrolle übernehmen.«
»Sind die Betroffenen sich der verschiedenen Persönlichkeiten bewusst?«
»Zunächst nicht. Aber irgendwann merken sie natürlich, dass sie an Stunden oder gar Tage überhaupt keine Erinnerung haben. Die Störung tritt hauptsächlich bei Frauen auf, und die meisten von ihnen haben in der frühen Kindheit ein schweres Trauma erlebt. Das kann wiederholter sexueller Missbrauch oder schwere körperliche Gewalt sein. In der traumatischen Situation spaltet sich das Bewusstsein, sodass das misshandelte Kind
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