Was sie nicht weiss
DIS ?«
»Könnte sein, obwohl das – wie ich schon sagte – längst nicht in allen Fällen passiert. Manche Menschen sind in der Lage, schockierende Erlebnisse aus eigener Kraft zu verarbeiten, andere versuchen, mithilfe einer Therapie ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und einige, vor allem sehr verletzliche und sensible Typen, nehmen ernsthaft Schaden. Es könnte schon bei dem Autounfall zu einer Dissoziation gekommen sein, und bei der Vergewaltigung traten die Alter Egos erneut auf den Plan, sodass das Opfer relativ normal weiterleben konnte, ohne belastende Erinnerungen.«
»Aber diese Vorfälle können doch nicht komplett aus dem Gedächtnis gelöscht sein.«
»Sind sie auch nicht. Die Frau weiß natürlich noch, dass etwas Schlimmes geschehen ist, hat aber keine echte Erinnerung daran und verbindet keine extremen Gefühle damit. Genau das leistet ja die Dissoziation: Sie hilft, das Unerträgliche zu ertragen.«
»Aber warum mordet sie jetzt erst, nach Jahren?«, fragt Lois.
Onno fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Darüber lässt sich nur spekulieren«, sagt er. »Ich denke mir, dass etwas vorgefallen ist, das an eine alte Wunde gerührt hat. Wahrscheinlich konnte die Frau dank ihrer Alter Egos jahrelang verhältnismäßig unbeschwert leben und brauchte sie vielleicht nicht mehr oder nur noch selten. Bis etwas passierte, was sie sehr erschüttert hat. Die Teilpersönlichkeiten treten nämlich dann zutage, wenn eine bedrängte Situation oder dergleichen es erfordert. Einige brauchen ihre Alter Egos mehr, andere weniger. Pauschal kann man das nicht sagen.«
Lois hat gespannt zugehört, ein paarmal an ihrem Eistee genippt und etwas Käse gegessen. »Ich überlege gerade«, sagt sie, »was wohl passiert, wenn dieser Dissoziationsprozess endet. In dem Moment, in dem die Alter Egos wegfallen, müsste die betroffene Person eigentlich ihre Erinnerungen komplett wiederhaben und darunter leiden, oder?«
»So wäre es tatsächlich, aber dieser Fall tritt nicht ein, weil die Alter Egos in der Regel lebenslang bleiben. Nur eine intensive Therapie kann bewirken, dass sie sich wieder mit der Ursprungspersönlichkeit vereinigen. Die Patientin muss bereit sein, sich dem auslösenden Trauma zu stellen, sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Und genau das wollen viele nicht, aus verständlichen Gründen, denn die Alter Egos bewahren sie ja gerade vor der Konfrontation mit diesen schlimmen Ereignissen, die man sich gar nicht vorstellen mag. Nach allem, was du erzählt hast, schätze ich, dass eure Verdächtige sich ihrer Störung bewusst ist und die anderen Persönlichkeiten gern los wäre, sie aber noch braucht.«
»Obwohl sie weiß, dass eine davon mordet?«
»Wahrscheinlich will sie das nicht wahrhaben, oder sie weiß es nicht mit letzter Sicherheit. In der Zeitung stand nichts über die Art und Weise, wie die Morde begangen wurden. Ist dabei viel Blut geflossen?«
»Nehmen wir an, es war so«, antwortet Lois ausweichend. Details preiszugeben wäre gegen jede Vorschrift, auch wenn sie sicher ist, dass Onno absolutes Stillschweigen bewahren würde.
»Dann müsste sie Blutspritzer an Kleidern oder Schuhen gehabt haben. So was entgeht einem nicht, es sei denn, die andere Persönlichkeit war lange genug präsent, um sämtliche Spuren zu tilgen.«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie keinerlei Erinnerung an die Taten hat.«
»Trotzdem ist es so. Eventuell gibt es einen Hauch von Erinnerung an einen bestimmten Ort, ein vages Gefühl, dort gewesen zu sein. Wenn sie dann erfährt, dass genau da ein Mord verübt wurde, stellt sie Zusammenhänge her, aber Erinnerungen hat sie definitiv nicht.«
»Was für ein schrecklicher Gedanke«, sagt Lois leise. »Angst zu haben, dass du eine Mörderin bist, und merken, dass immer mehr darauf hindeutet, aber keine Kontrolle darüber zu haben, was du tust oder lässt. Das ist die Hölle.«
»Das stimmt. Der Frau, nach der ihr sucht, hätte besser daran getan, mithilfe eines Therapeuten ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.«
»Wenn wir dem Richter begreiflich machen können, dass sie nicht schuldfähig ist, muss sie zwar nicht ins Gefängnis, wird aber mit Sicherheit in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Wer weiß, vielleicht wäre das sogar am besten für sie.«
»Mich würde ihr Fall sehr interessieren«, sagt Onno. »Sie bekommt aber bestimmt Sicherungsverwahrung, oder?«
»Ich denke schon. Aber erst einmal müssen wir sie finden.«
»Ich kann mir
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