Was sie nicht weiss
Unterschied«, meint Claudien.
Allgemeines Gemurmel setzt ein, sodass Ramon mit einem Handzeichen um Ruhe bitten muss.
»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen«, sagt er. »Als Laien können wir nicht einschätzen, ob die Scholten wirklich persönlichkeitsgestört ist. Falls ja, müssen wir äußerst vorsichtig sein, denn labile Menschen reagieren oft unberechenbar. Wir sollten unbedingt einen Psychiater zuziehen, der uns bei den weiteren Ermittlungen und später beim Verhör berät.«
Als die anderen den Besprechungsraum verlassen haben, geht Lois auf Ramon zu.
»Ich kenne einen Psychiater, der in einer Klinik in der Nähe von Bloemendaal arbeitet. Soll ich mal mit ihm reden?«
»Wenn er sich mit dieser Störung auskennt, wäre das eine große Hilfe.«
Lois wirft ihren leeren Kaffeebecher in den Papierkorb und geht. Im Büro holt sie ihr Handy aus der Tasche und blickt sich kurz um.
Alle sind inzwischen wieder an ihren Plätzen und diskutieren miteinander oder telefonieren.
Sie geht in den Flur und sucht eine ruhige Ecke. Dann öffnet sie die Mail, die Onno ihr geschickt hat, prägt sich die Telefonnummer ein und wählt.
»Hallo Onno, hier spricht Lois Elzinga«, sagt sie, als er sich gemeldet hat. Vor ihrem inneren Auge sieht sie sein verdutztes Gesicht, und er klingt auch höchst überrascht: »Na so was! Mit dir hätte ich zuallerletzt gerechnet.«
»Warum das denn?«
»Du hast mir klar zu verstehen gegeben, dass du vorläufig keine Zeit für mich hast. Oder ist euer Fall mittlerweile gelöst?«
»Noch nicht, aber fast. Das ist auch der Grund für meinen Anruf.«
Sekundenlang ist es still in der Leitung.
»Du weißt aber schon, dass ich Psychiater bin und nicht Kriminologe«, sagt Onno.
»Manchmal braucht die Kripo den Rat eines Psychiaters.«
»Stimmt. Einer meiner Kollegen tritt öfter als Gutachter bei Gerichtsverhandlungen auf. Also: Was kann ich für dich tun?«
»Kennst du dich mit Dissoziativen Identitätsstörungen aus?«
»Ja, in gewissem Maße.«
»Hast du Patienten, die an so etwas leiden?«
»Derzeit nicht, aber früher hatte ich zwei. Die Erkrankung kommt ziemlich selten vor.«
»Ich würde gern mit dir darüber sprechen.«
»Wann passt es denn?«
»Gleich wäre gut«, sagt Lois hoffnungsvoll.
»Ich habe heute noch drei Gespräche mit Patienten. Wie wär’s am Abend bei mir zu Hause?«
»Früher geht es nicht?«
»Tut mir leid. Ich kann meine Patienten nicht unnötig warten lassen.«
»Verstehe. Hauptsache, es klappt heute noch. Dann also am Abend. Sagst du mir noch rasch deine Adresse?«
Onno gibt sie durch.
»Danke«, sagt Lois. »Bis später.«
37
Am Abend auf dem Weg nach Overveen überlegt Lois, wie merkwürdig es doch ist, dass Onno und sie sich auf diese Weise erneut begegnen. Seit Weihnachten hat sie kaum mehr an ihn gedacht, desto mehr wundert es sie, dass sie sich auf das Wiedersehen freut, obwohl er eigentlich gar nicht ihr Typ ist – mit Bundfaltenhose und Pullunder!
Vor ein paar Wochen hat sie in einem Magazin gelesen, dass sehr viele Frauen deshalb Single blieben, weil sie zu wählerisch seien. Vor allem Frauen mit hohem Ausbildungsniveau, die selbst gut verdienten, hätten Anforderungen, denen nur wenige Männer genügen könnten, und gäben sogar bestens geeigneten Kandidaten den Laufpass, weil sie letztlich immer etwas auszusetzen fänden.
Wenn ich ehrlich bin, trifft das auch auf mich zu, denkt Lois. Onno hat ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie mag, sie hingegen hat ablehnend reagiert. Liebe lässt sich nun einmal nicht erzwingen, schon gar nicht aus Vernunft gründen. Und solange ihr erster Gedanke morgens beim Aufwachen noch Brian gilt, ist an eine neue Beziehung ohnehin nicht zu denken.
Sie nimmt die Abfahrt Overveen und lässt sich vom Navi zu Onnos Adresse leiten.
Kurz darauf stellt sie das Auto vor einer stattlichen Villa aus dem neunzehnten Jahrhundert ab.
Sie pfeift anerkennend durch die Zähne. Nicht schlecht, das Anwesen, soweit sie es erkennen kann. Schade nur, dass es bereits dunkel ist und sie kaum etwas von dem weitläufigen Garten sieht. Im Licht der Straßenlaterne glänzt auf dem Rasen eine kupferne Sonnenuhr, als sie den von kegelförmigen Buchsbäumchen flankierten Plattenweg entlanggeht.
Sie hat noch nicht den Finger auf dem Klingelknopf, da geht bereits die Tür auf. Vor ihr steht Onno, diesmal in lässigen Jeans, aber mit dem unvermeidlichen Pullunder. Genau so hat Lois sich sein Feierabendoutfit
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