Was sie nicht weiss
blockierten das Denken. Jetzt löst sich die Blockade, Lois spürt regelrecht, wie der Mechanismus wieder in Gang kommt und Verbindungen entstehen.
»Wollte Maaike als Kind Stefanie genannt werden?«, hört sie sich fragen.
36
»Woher wusstest du das?«, fragt Jessica erstaunt, als sie durch den Flur zurückgehen. »Das mit Tamara war ja nach einer Weile abzusehen, aber wie um alles in der Welt bist du auf Stefanie gekommen?«
»In Maaikes Wohnung habe ich eine Kinderzeichnung gesehen, die mit Stefanie signiert war, und gefragt, wer das Mädchen sei. Daraufhin hat Daniela Amieri behauptet, es handele sich um ihre Nichte, die Maaike sehr bewundert. Damals hatte ich keinen Grund, daran zu zweifeln, aber jetzt steht fest, dass sie gelogen hat.«
»Und warum hat sie gelogen?«
»Um Maaike zu schützen. Niemand sollte wissen, dass die Zeichnungen von ihr selbst, von Maaike also, stammen.«
Schweigend drückt Jessica gegen die Drehtür.
»Irgendwie versteh ich das Ganze nicht«, sagt sie auf dem Weg zum Auto. »Maaike ist Tamara oder benutzt jedenfalls diesen Namen, und nun ist sie auch noch Stefanie und macht Kinderzeichnungen. Glaubst du, sie ist psychisch krank? Schizophren oder so?«
»An so was denke ich, ja«, bestätigt Lois. »Ich hab mal was zu dem Thema gelesen, nur weiß ich nicht mehr, wie die Erkrankung heißt. Es war was mit Persönlichkeitsstörung.«
»Du meinst, dass sie mehrere Persönlichkeiten hat, so wie die Frau in dem Film, wie hieß er noch? Sybil, glaube ich.«
» Sybil ist ein Buch.«
»Stimmt, aber es wurde verfilmt. Und ich kenne den Film. Die Hauptfigur hat dreizehn, vierzehn verschiedene Persönlichkeiten. Total gruselig. Ich weiß nicht recht, ob ich glauben soll, dass es so was gibt.«
»Es kommt tatsächlich vor. Als meine Mutter unter Depressionen litt, habe ich viel über Psychologie gelesen, und in den Büchern wurde auch diese Störung beschrieben.« Lois steigt ins Auto und schnallt sich an.
Jessica nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, holt ihr Smartphone aus der Tasche und beginnt zu tippen.
»Schnall dich an.«
»Ach so, ja …« Rasch legt Jessica den Gurt an, dann tippt sie emsig weiter.
»Da haben wir’s«, sagt sie triumphierend. »Laut Wikipedia heißt das Dissoziative Identitätsstörung. Es ist eine psychische Erkrankung, bei der sich mehrere Persönlichkeiten bilden, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten übernehmen. Die Betroffenen haben Erinnerungslücken, die sich nicht durch Vergesslichkeit erklären lassen, und wissen in der Regel nichts von den anderen Persönlichkeiten.«
»Tamara und Stefanie also«, sagt Lois. »Womöglich sind das noch nicht alle.«
»Wie bitte?«, sagt Ramon. »Disso-was-Störung?«
»Dissoziative Identitätsstörung«, wiederholt Lois. »Men schen, die daran leiden, haben mehrere Identitäten oder Per sönlichkeiten. Es würde viel erklären, wenn das bei Maaike Scholten der Fall wäre.«
Ramon hat eine Sondersitzung einberufen, bei der Lois und Jessica von ihrem Besuch bei Dirk-Jan Scholten berichten. Kaum ist der Begriff »Dissoziative Identitätsstörung« gefallen, zücken fast alle ihre Smartphones und googeln. Sie werfen nach einigen Augenblicken ein paar Bemerkungen zu der Erkrankung in die Runde. Einige sind sehr nachdenklich und fast betroffen. Die meisten aber scheinen eher amüsiert. Lois ärgert sich über ihre unsensiblen Kollegen.
»Weiß jemand von euch noch mehr darüber?«, fragt Ramon.
»Ich glaube, Nick leidet daran«, sagt Silvan. »Wenn man mit dem ein paar Stunden in der Kneipe sitzt, verändert sich seine Persönlichkeit so, dass man ihn nicht mehr erkennt.«
Es wird gelacht, und auch Ramon kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, macht aber gleich wieder eine ernste Miene.
»Wenn die Scholten tatsächlich diese Störung hat, sind wir einen großen Schritt weiter«, sagt er. »Dann wäre klar, warum wir Tamara bisher nicht ausfindig machen konnten: weil sie in Wirklichkeit gar nicht existiert.«
»Und wir hätten auch das Motiv für den Mord an Daniela Amieri«, ergänzt Fred. »Sie muss gewusst haben, dass Maaike und Tamara eins sind. Vielleicht wollte sie ihre Freundin dazu bringen, sich zu stellen. Oder sie hat damit gedroht, selbst die Polizei zu informieren.«
»Aber wer hat sie umgebracht? Maaike oder Tamara?«, fragt Claudien.
»Ist doch egal«, bemerkt ihr Nebenmann. »Mord ist Mord, wie auch immer die Täterin sich nennt.«
»Meiner Meinung nach macht das schon einen
Weitere Kostenlose Bücher