Was sie nicht weiss
die vielen freiwilligen Überstunden können bedeuten, dass du nicht mit deinen Gefühlen konfrontiert werden willst.«
»Oder dass ich schlicht einen anstrengenden Job habe und keinen Alkohol mag? Weißt du was, Onno, du solltest besser mal mit Tessa reden. Und zwar nicht über mich, sondern über sie selber. Hat sie dir je gesagt, dass sie keine Kinder will, weil sie Angst hat, sie zu verlieren? Wenn jemand sich nicht festlegen will und der Realität ausweicht, dann ist das meine Schwester. Und ausgerechnet sie hetzt dich auf mich! Das ist echt der Hammer!«
Onno scheint anderer Ansicht zu sein. Ernst sieht er sie an und sagt: »Ich finde das nett von ihr. Sie sorgt sich um dich.«
»Tessa soll sich um ihren eigenen Kram kümmern! Sie führt ein oberflächliches Luxusleben, macht nichts, außer mit Geld um sich zu schmeißen, und ist dann auch noch gestresst von ihren trivialen Beschäftigungen. Wenn du mich fragst, hat sie Guido nur wegen seines Reichtums geheiratet!«
Kaum sind die hässlichen Worte gesagt, bereut Lois sie auch schon und beißt sich auf die Lippe.
»Das glaube ich nicht«, sagt Onno. »Und selbst wenn, wäre das jetzt nebensächlich. Es geht um dich, nicht um Tessa.«
»Ja, ich habe auch hier und da meine Macken von früher. Aber ich habe keine Lust, mit dir darüber zu reden. Vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast, mich über diese Störung zu informieren.« Lois steht auf und greift dabei nach ihrer Tasche und den Büchern.
»Nun hab ich dich vergrault …« Er macht eine schuldbewusste Miene. »Bestimmt willst du nicht mehr mit mir essen gehen, oder? Das hatten wir doch abgemacht.«
»Ich weiß. Aber da ich obsessiv Sport treibe, ein Workaholic bin und obendrein auch noch Kontaktschwierigkeiten habe, lassen wir das besser. Der Abend würde bestimmt ein Riesenreinfall.«
»Das Risiko gehe ich ein, und ich verspreche dir hoch und heilig, nicht den Psychiater rauszukehren.«
Trotz ihres Ärgers muss Lois lachen. »Du kannst ebenso wenig aus deiner Haut wie ich«, sagt sie. »Ich gehe jetzt, tschüs Onno, noch einen guten Abend.«
Ein kurzes Nicken, und bevor er reagieren kann, ist sie auch schon an der Haustür.
Als sie im Auto sitzt, wirft sie einen Blick zurück zum Wohnzimmerfenster. Onno steht noch genauso da wie vorhin, mit hängenden Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
Auf dem Weg nach Alkmaar kocht noch einmal die Wut in ihr hoch: auf Tessa mit ihrem dämlichen Gerede, auf Onno, der sich von ihr hat einspannen lassen, auf Guido, dem es am allerwenigsten zusteht, sich in ihr Leben einzumischen, und letztlich auf sich selbst – denn die Vorzeichen standen gut, und sie hätte einen netten Abend mit einem Mann verbringen können, der sie offensichtlich gernhat.
Sie fährt am Revier vorbei. Ramon, Fred und ein paar wei tere Kollegen arbeiten sicher noch, denn hinter den Fenstern brennt Licht.
Einen Moment lang ist sie versucht anzuhalten und zu erzählen, was sie in Erfahrung gebracht hat, doch der deprimierende Gedanke, dass es ihr – ähnlich wie Maaike – nicht gelingt, etwas aus ihrem Leben zu machen, hält sie davon ab.
Sie braucht jetzt Schlaf, möglichst viel Schlaf, dann sieht sie morgen wieder klar und fühlt sich nicht mehr so niedergeschlagen.
40
Sie muss in aller Eile das Nötigste zusammengerafft haben, bevor sie ging. Zu Fuß zum Bahnhof, denn das Rad steht noch an der Zeglis, und ein Auto besitzt sie nicht. An nichts von alledem kann Maaike sich erinnern, aber so etwa muss es gelaufen sein.
Nachdem sie erst überhaupt nicht wusste, wo sie war, gab ein Blick aus dem Fenster Aufschluss: Zeedijk steht auf dem Straßenschild am Haus gegenüber, und seitlich an der Wand hat sie das Aushängeschild einer Pension entdeckt.
Wie lange ist sie schon in Amsterdam? Wieder fehlt ein Stück Erinnerung. In letzter Zeit passiert das beängstigend oft. Manchmal ist es nur eine Stunde, ein andermal mehr – so wie jetzt.
Jahrelang konnte sie sich die immer wiederkehrenden Blackouts nicht erklären und war völlig verwirrt, wenn Unbekannte sie grüßten oder ansprachen und von Dingen redeten, an die sie sich nicht erinnerte.
Als Schülerin saß sie mitunter im Klassenzimmer und befand sich im nächsten bewussten Moment in einem Einkaufszentrum, manchmal mit erstaunlich viel Geld in der Börse, dann wieder ohne einen Cent. In ihrem Kleiderschrank tauchten Sachen auf, die sie nicht selbst gekauft hatte und die auch gar nicht ihr Stil waren.
Später, in
Weitere Kostenlose Bücher