Was sie nicht weiss
vorstellen, dass sie vor lauter Angst, festgenommen zu werden, in Panik geraten ist. So was könnte eine neuerliche Dissoziation bewirken. In extremen Stresssituationen kommen manchmal noch Persönlichkeiten dazu. Eine meiner Patientinnen hatte dreiunddreißig.«
Entgeistert starrt Lois ihn an. »Das ist nicht wahr, oder?«
»Leider doch. Es kann aber sein, dass eure Verdächtige nur zwei hat und eine davon sehr stark ist. Diese könnte bei Stress tage- oder gar wochenlang aktiv sein.«
Onno steht auf und tritt ans Bücherregal, das eine ganze Wand einnimmt. Er zieht ein paar Bände heraus und gibt sie Lois. »Darin findest du die neuesten Erkenntnisse. Du kannst sie gern mitnehmen.«
»Vielen Dank.« Sie schlägt das Inhaltsverzeichnis des obersten Buchs auf, ohne so richtig hinzuschauen. Vor ihrem inneren Auge sieht sie Maaike durch unbekannte Straßen irren, in die Tamara sie gelotst hat.
»Ich muss sie finden«, murmelt sie.
»Unbedingt«, bekräftigt Onno, obwohl Lois mehr mit sich selbst gesprochen hat. »Sie ist nicht nur eine Gefahr für andere, sondern auch für sich.«
Er steht auf, entkorkt den Rotwein und nimmt dann wieder Lois gegenüber Platz.
»Jetzt aber zu dir«, sagt er. »Denn dass es dir nicht sonderlich gut geht, sieht sogar ein Blinder.«
39
Lois spürt regelrecht, wie sich bei ihr die Stacheln aufstellen. Argwöhnisch mustert sie Onno, der sie erwartungsvoll ansieht.
Typisch Psychiater, zuckt es durch ihren Kopf, hinter allem suchen sie was!
»Meinst du?«, sagt sie nur.
»Du bist blass, hast dunkle Augenringe und kommst mir so müde vor, dass ich dir am liebsten das Sofa für ein Schläfchen anbieten würde.«
Lois atmet auf. Es geht um die Arbeit, nicht um ihr Privatleben – Gott sei Dank! Und ganz unrecht hat er nicht: Sie ist heute Morgen selbst erschrocken, als sie in den Spiegel guckte.
»Ich habe wochenlang so gut wie durchgearbeitet«, gibt sie zu. »Das kommt bei der Polizei öfter vor. Wir alle machen momentan Überstunden.«
Onno schenkt sich bedächtig ein Glas Rotwein ein. »Dass Überstunden sich nicht vermeiden lassen, glaube ich gern. Hoffentlich bekommst du, wenn der Fall gelöst ist, einen entsprechenden Freizeitausgleich zum Erholen. Mir geht es eher um die Frage, ob du dich ausreichend von dem distan zieren kannst, was du in deinem Beruf alles zu sehen kriegst.«
»Worauf willst du hinaus? Dir als Psychiater geht es doch nicht anders. Du musst dir tagsüber alle möglichen Probleme anhören und zusehen, dass du trotzdem schlafen kannst. So was gehört eben zum Job, daran gewöhnt man sich.«
Er nimmt einen Schluck Wein. »Du bist eine gute Menschenkennerin und hast mich durchschaut. Es geht in der Tat um etwas anderes.«
»Und worum bitte?«
»Tessa und Guido machen sich Sorgen um dich.«
»Wie bitte?!«
»Die beiden haben den Eindruck, dass du … hmmm, wie soll ich das ausdrücken … dass du dich irgendwie verrannt hast. Tessa sagt, du arbeitest wie eine Besessene und kapselst dich ab, sodass sie kaum noch an dich herankommt.«
»Blödsinn! Wir haben uns erst gestern länger getroffen.«
»Dass sie mit mir geredet hat, ist schon eine Weile her. Aber wie schätzt du das ein? Habt ihr wirklich so wenig Kontakt miteinander?«
Statt zu antworten, zuckt Lois die Schultern. Einerseits hat sie absolut keine Lust, mit Onno über dieses Thema zu sprechen. Andererseits tun seine herzliche Aufmerksamkeit und seine warme Ausstrahlung ihr gut, sie sind wie Balsam für ihre Seele. Er wirkt besorgter um sie, als Brian es in der letzten Zeit ihrer Beziehung war. Es könnte aber auch sein, dass Tessa Onno überredet hat, mit ihr eine Art therapeutisches Gespräch zu führen.
Fest entschlossen, nichts allzu Privates preiszugeben, greift sie nach ihrem Teeglas.
»Tessa und ich sind sehr unterschiedlich«, sagt sie. »Sie geht auf ihre, ich auf meine Art mit der Vergangenheit um.«
»Deine Schwester findet, du würdest ziemlich extrem auf die Familienprobleme von früher reagieren. Du treibst obsessiv Sport, sagt sie, nimmst dir keine Zeit für nette Unternehmungen, hast kaum Sozialkontakte und trinkst keinen Tropfen Alkohol.«
»Seit wann ist es ein Fehler, wenn man keinen Alkohol trinkt?«
»Ein Fehler ist das natürlich nicht. Es könnte aber eine Reaktion auf die Alkoholabhängigkeit eurer Mutter sein. Deine Abneigung gegen Alkohol rührt vielleicht daher, dass du große Angst hast, die Kontrolle über dich selbst zu verlieren. Und der obsessive Sport und
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