Was sie nicht weiss
gern eingekauft, um abends zu kochen, doch an Silvester schließen die Supermärkte zeitig.
Lois radelt zum Bahnhof und ersteht dort ein Netz Orangen und einen Fertigsalat.
Zu Hause angekommen, packt sie die Einkäufe aus und presst sich als Erstes einen Saft. Um dieses hektische Leben durchzuhalten, braucht sie Vitamine – und noch viel dringender ein paar Tage zum Ausspannen. Allmählich fühlt sie sich wie ein ausgewrungener Putzlappen. Nicht einmal mehr nachts kommt sie zur Ruhe. Oft wälzt sie sich stundenlang im Bett herum, und wenn sie endlich eingeschlafen ist, schreckt sie bald wieder aus einem unruhigen Traum hoch.
Lois hält das Glas an den Mund und trinkt es zur Hälfte aus.
Dann geht sie ins Wohnzimmer, fährt ihren Laptop hoch und klickt Facebook an.
Diesmal sind gleich mehrere Meldungen von Brian dabei.
Lois’ Herz setzt, wie immer, ein paar Schläge aus. Dann beugt sie sich vor, um besser sehen zu können.
Die hübsche blonde Frau, die auf einem der Bilder Brian innig umarmt, war schon auf früheren Fotos. Die ihr aber bis zu diesem Moment harmlos vorgekommen waren.
Jetzt schließt sie die Augen und versucht mit aller Kraft, die aufkommende Verzweiflung niederzukämpfen.
Fred hat recht, denkt sie nach einer Weile, was ich da mache, ist absolut sinnlos. Brian kommt nicht wieder, und es wird höchste Zeit, dass ich mich damit abfinde.
Ab jetzt keinen Kontakt mehr, entscheidet sie.
Sie wird es überleben, schließlich ist es nicht das erste Mal, dass sie einen geliebten Menschen loslassen muss. Und mit ein paar Mausklicks entfernt sie Brians Namen von der Liste ihrer Freunde.
Später sitzt sie vorm Fernseher, müde, frustriert und ruhelos. Das Silvesterprogramm ist banal wie immer, und die Krapfen, die sie von der Arbeit mitgenommen hat, schmecken pappig.
Ihr Vater liebte Krapfen, am meisten seine selbst gebackenen. Weil die nicht immer gut gelangen, mussten sie manchmal noch am Silvesterabend am Stand vor der Grote Kerk anstehen. Um die Stunden bis Mitternacht zu überbrücken, erzählte er ihr und Tessa jedes Jahr wieder Geschichten. Wie beispielsweise früher Krapfen an die Ärmsten verteilt wurden, um ihnen etwas Fett auf die Rippen zu bringen. Ihr Vater konnte über alles und jedes Geschichten erzählen. Als Teenager nervte sie das. Lieber hätte sie mit ihm um eine Taschengelderhöhung verhandelt, statt ihm zuhören zu müssen. Trotzdem spuken ihr seine Geschichten noch heute im Kopf herum, obwohl er selbst längst fort ist.
Aber sie will sich jetzt nicht alten Erinnerungen hingeben und womöglich noch sentimental werden, deshalb richtet sie ihre Gedanken auf Tamara. Wo mag sie sein? Was macht sie gerade, und was hat sie vor?
Immer stärker wird das Gefühl, sie sollte nicht zu Hause, sondern in Amstelveen sein, am besten vor Helens Haus Posten beziehen. Eine innere Stimme drängt sie geradezu hinzufahren, jetzt gleich. Ramon wird das nicht passen, aber was soll’s – über ihre freie Zeit kann sie selbst bestimmen.
Sie hat sich gerade vom Sofa erhoben, als das Handy klingelt. Sie wirft einen schnellen Blick aufs Display: Onno.
Lois lässt es so lange läuten, bis die Mailbox angeht. Währenddessen legt sie das Schulterholster mit der Dienstpistole um, das sie mit nach Hause genommen hat, weil sie Bereitschaft hat.
Kurz darauf ist sie auf der A9 und eine halbe Stunde später in Amstelveen.
Sie fährt an Helens Haus vorbei und parkt ein Stück weiter. Im Rückspiegel hat sie das Gebäude gut im Blick.
Ein paar Jugendliche kommen auf dem Bürgersteig heran, albern herum und werfen Knallfrösche.
Hinter den Fenstern einiger Häuser sieht Lois Paare und Familien zusammensitzen, bei Fondue oder Raclette. Mit einem Mal wird sie wütend auf sich selbst. Was hat sie nur geritten hierherzufahren und im Dunkeln ein Haus zu observieren, statt ihren Feierabend zu genießen?
Aber nachdem sie nun einmal da ist, kann sie die Gelegenheit nutzen, dass an Silvester die meisten Leute zu Hause sind.
Sie zieht den Zündschlüssel ab und steigt aus, fest entschlossen, ihren Plan sofort umzusetzen. Den Gedanken daran, dass ihr das eigenmächtige Vorgehen mit Sicherheit einen Rüffel von Ramon eintragen wird, schiebt sie beiseite. Sollte sich etwas Wichtiges ergeben, wird sie es einfach so darstellen, dass er nicht komplett ausrastet.
Die Hände in den Jackentaschen vergraben, geht sie über den Bürgersteig.
48
Vom Schlafzimmerfenster im ersten Stock aus beobachtet Tamara die Frau, die aus
Weitere Kostenlose Bücher