Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
aufgereiht wären, wobei jeder Ort einer bestimmten Größe entspricht [...]. Außerdem kann man sich den Zahlenstrahl als gerichtet denken. Die Null ist ganz links, und große Zahlen sind weit rechts.“ – Das gilt zumindest für uns Westler, die von links nach rechts schreiben.
Der Zahlenstrahl benötigt keine bewusste Vorstellung, wir wenden ihn automatisch an, wie die unterschiedlichen Reaktionszeiten aus Dehaenes Versuchen zeigen. Es gibt allerdings Menschen mit einem ausgeprägten visuellen Vorstellungsvermögen, die ein ganz konkretes, klares Bild von der räumlichen Anordnung der Zahlen vor ihrem inneren Auge haben. Für sie ist der Zahlenstrahl keine bloß abstrakte Idee, sondern eine sinnlich fassbare Vorstellung: ein abschreitbarer Zahlenraum, eine oftmals bunte numerische Landkarte, die individuell unterschiedliche Formen annehmen kann. Der Synästhesieforscher Cretien van Campen erläutert in The Hidden Sense die Vielfaltsolcher Zahlenformationen, die ihm Synästhetiker schilderten: „Sie beschreiben prächtige Bilder von treppenartigen, im Uhrzeigersinn verlaufenden, spiralförmigen oder abfallenden Zahlenfolgen, manchmal bis ins Unendliche reichend, manchmal Schleifen drehend wie eine Achterbahn, die an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt.“
Als Erster hatte 1880 der britische Forscher Francis Galton solche Zahlenbilder untersucht. Galton, ein Cousin Charles Darwins, war ein umtriebiger viktorianischer Gelehrter, der nicht nur wichtige Beiträge zu Meteorologie, Statistik und Psychologie leistete und als Begründer der Eugenik später in Verruf geriet, sondern beispielsweise auch das Verfahren des Fingerabdrucks als Mittel zur Feststellung der Identität erfand und alle möglichen Phänomene durch Zählen und Messen auf ihren statistischen Begriff zu bringen versuchte. Er sammelte eine Vielzahl von Berichten über die eigentümliche visuelle Wahrnehmung von Zahlen und ließ die von ihm Befragten Zeichnungen anfertigen. So schrieb ihm George Bidder, Sohn eines berühmten Rechenkünstlers: „Jede Zahl (zumindest innerhalb der ersten Tausend, danach fungieren die Tausender als Einheiten) wird von mir immer an ihrem eigenen, bestimmten Ort in der Reihe vorgestellt, wo sie, wenn ich so sagen darf, ihr Zuhause und ihre Persönlichkeit hat.“ Der Zahlenstrahl auf seiner mitgelieferten Zeichnung beginnt rechts – es gibt also Ausnahmen zu Dehaenes Links-Rechts-Schema – mit der 1 und bewegt sich dann zunächst kreisförmig im Uhrzeigersinn bis zur 12 und windet sich dort leicht ansteigend nach links. Bei 50 erreicht die Linie ihren Scheitel und fällt dann wieder sanft nach unten ab, um bei der 100 einen weiteren kreisförmigen Bogen zu schlagen.
Oft erscheint die Zahlenfolge nicht nur als girlandenförmige Lichterkette oder als dreidimensionaler Tunnel, wie wir nicht-synästhesiebegabten Menschen sie nur aus Computerspielen oder Erfahrungen mit psychedelischen Drogen kennen, die einzelnen Zahlen haben zusätzlich auch noch unterschiedliche Farben. Das Farbensehen, also die Verknüpfung von Zahlen oder Buchstaben mit Farben, gehört zu den häufigsten Synästhesien. Ein typischer Fall ist Katrin Müller, Dramaturgin am Maxim Gorki Theater in Berlin, die uns erzählt: „Die Ziffern 0 bis 9 erscheinen vor meinem inneren Auge, seit ich denken kann, in diesen Farben: 0 = Hellgrau/Transparent, 1 = Weiß, 2 = Gelb, 3 = Orangerot, 4 = Tiefblau, 5 = Hellblau, 6 = Hellbeige, 7 = Braun, 8 = Dunkelblau, 9 = Sandfarben/kräftiges Beige. Und alle Zahlenverbindungen erscheinen dann eben als entsprechende Kombinationen dieser farbigen Ziffern.“
Damit verteilt sie die Farben ziemlich genau nach einem Schema auf die Zahlen, das sich auch bei vielen anderen Synästhetikern findet. „Die meisten Menschen verknüpfen Schwarz und Weiß mit 0 und 1 oder 8 und 9, Gelb, Rot, und Blau mit kleinen Zahlen wie 2, 3 und 4, Braun, Purpur und Grau dagegen mit größeren Zahlen wie 6, 7 und 8“, notiert Stanislas Dehaene.
Warum genau diese Farben so häufig mit den jeweiligen Ziffern korrespondieren, ist unklar. Wie so vieles bei der Synästhesie, die trotz Galtons frühen Untersuchungen erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten intensiver erforscht worden ist und noch immer viele Rätsel aufgibt. Selbst über die Verbreitung von Synästhesien herrscht Uneinigkeit. Schätzungen über die Anzahl der Synästhetiker reichen von weit unter einem Prozent bis zu zehn Prozent aller Menschen. Auch mit den Ursachen tun sich die
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