Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
sind alle Synästhesieregler auf Anschlag gedreht: Die 5 ist wie ein Donnerschlag oder wie gegen Felsen anbrandende Wellen, die 37 nimmt er als klumpigen Porridge wahr, und bei der 89 denkt er an fallenden Schnee. Die Primzahlen erkennt er sofort an ihrem Erscheinungsbild, sie haben für ihn die Gestalt von runden Kieselsteinen, während alle anderen Zahlen ihm eher rasterartig erscheinen. Manchmal erinnern ihn auch Menschen an bestimmte Zahlen. So sagte er in einem Interview zum amerikanischen Talkshow-Host David Letterman, dieser sehe aus wie die 117, groß und schlaksig.
Der synästhetische Farben- und Formenreichtum der Zahlen ist für Tammet nicht verwirrend, im Gegenteil: Er schafft Übersicht. Gerade sein komplexer Umgang mit Zahlen befähigt ihn zu mathematischen und mnemotechnischen Höchstleistungen. 2004 gab er in einem fünfstündigen Marathon die ersten 22.514 Nachkommastellen der Kreiszahl Pi wieder, die er zuvor in weniger als drei Monaten auswendig gelernt hatte, und stellte damit einen neuen Europarekord auf – den gegenwärtigen Weltrekord hält laut Guinness-Buch der Chinese Lu Chao mit 67.890 Stellen, und einen inoffiziellen Rekord erreichte 2006 der Japaner Akira Haraguchi, der sogar auf 100.000 auswendig aufgesagte Ziffern gekommen sein soll. Die Zahlenlandschaft aus Mustern, Farben und Formen, die Tammets Gehirn unwillkürlich formt, dient ihm als Gedächtnisstütze: „Um jede Ziffer zu erinnern, vollziehe ich einfach die unterschiedlichen Formen und Texturen in meinem Kopf nach und lese aus ihnen die Zahlen heraus.“
Wie kommt es zu dieser „winzigen Insel von Genie in einem Meer der Inkompetenz“, wie Dehaene die Disposition der Savants beschreibt? Den Neurologen fällt es schwer, den jeweiligen Anteil von genetischen Faktoren, Umweltbedingungen und individuellen Lernleistungen von Savants genau zu bestimmen. Ein eindeutig identifizierbares „Mathe-Gen“ als alleinige Ursache scheidet wohl aus. Vielmehr, so vermutet Dehaene, führen die ausgeprägten Gedächtniskapazitäten im Zusammenspiel mit der Fähigkeit zu extrem fokussierter Konzentration dazu, dass die mathematischen Wunderkinder sich ihre Leistungen in einem jahrelangen Übungsprozess aneignen. Schließlich wird jemand, der sich über Jahre äußerst intensiv mit Kalenderdaten oder Zahlenfolgen beschäftigt, diese irgendwann so gut kennen, dass er sie nicht nur seine Freunde nennt, sondern alle möglichen Muster und Beziehungen zwischen ihnen blitzartig erkennen kann.
Und dann ist da noch der 1867 geborene Italiener Jacques Inaudi, der im 19. Jahrhundert als größtes Rechengenie aller Zeiten galt – ein Schäfer, der seine ausreichend vorhandene Zeit auf das unablässige Zählen von Schafen, Kieseln oder Schritten verwendete und so zu einem ausgezeichneten Kopfrechner wurde. Überhaupt sind Schäfer nach jahrelangem Training dazu in der Lage, mit einem Blick zu bemerken, wenn in ihrer Herde ein Schaf fehlt. Ob sie allerdings auch die Anzahl der Schafe mit einem Blick erfassen können, ohne zu zählen, scheint zweifelhaft. Vielmehr haben sie eine Art intuitives Gespür ausgebildet, weniger für die Zahligkeit ihrer Herde als für die An- oder Abwesenheit jedes einzelnen Schafes.
Auch von Savants wird gerne kolportiert, dass sie eine große Anzahl von Objekten auf einen Blick richtig beziffern können. Populär wurdediese Überzeugung durch eine Episode in Rain Man : Als die Kellnerin in einem Lokal eine Schachtel mit 250 Zahnstochern fallen lässt, wirft der von Dustin Hoffman gespielte Autist Raymond nur einen raschen Blick auf die am Boden verstreuten Zahnstocher und murmelt „82 – 82 – 82. Es sind 246.“ „Pretty close“, stellt sein Begleiter Tom Cruise anerkennd fest. Als die beiden schon fast aus der Tür sind, bemerkt die Bedienung, dass vier Zahnstocher in der Packung geblieben sind. Ist es möglich, einen solchen ungeordneten Haufen in ein, zwei Sekunden zu überblicken, drei gleich große Gruppen zu bilden und die Anzahl korrekt zu benennen? Hier scheint die Fantasie mit den Drehbuchautoren durchgegangen zu sein. Selbst Savants können die Wahrnehmungsgrenze der unmittelbaren Erfassbarkeit von Objekten nicht knacken. Augenblickliche Gruppierungen von vier, vielleicht fünf oder sechs Objekten sind möglich, nicht jedoch von 82. Dehaene hat stattdessen eine rationale Erklärung für diese vermeintlich übermenschlichen Fähigkeiten von Zählakrobaten: „Wenn sie schneller zu einem Ergebnis kommen als
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