Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
ist sie zur Stelle, „wann immer alte Weisheiten unbändiger leuchten als modernes Wissen; wann immer die kleinlichen Unterscheidungen zwischen den Dingen verblassen und wir gewärtigen, dass alles alles und jedes sein Gegenteil sein kann“.
Mehr noch als die 1, die an eine Kerbe erinnert, ist die 0 ein ikonisches Zeichen, indem sie bildlich repräsentiert, was sie bedeutet. Kaplan vermutet, ihre äußere Form stamme von den leeren Vertiefungen in Zählbrettern oder den Mulden ab, die Zählsteine im Sand hinterlassen. Sie verkörpert die Leere, das Loch, das sie später in der Frühphase der Computerisierung und im binären System der Lochkarten auch faktisch wieder wurde. Als Stelle des Nulldurchlaufs hat die 0 damit aber auch eine optimistische Seite. Sie symbolisiert den Neuanfang, das Alles-auf-Null-Setzen, das Betätigen der Reset-Taste. So wie bei der Künstlergruppe Zero, die sich Ende der 1950er Jahre in Düsseldorf formierte, um die Nachkriegskunst von ihrem Ballast zu befreien und noch einmal ganz bei Null anzufangen. In Deutschland verbindet man mit der „Stunde Null“ gemeinhin den Gründungsmythos der Bundesrepublik, demzufolge nach Weltkrieg und Nazi-Regime tabula rasa herrschte und alle ehemaligen Volksgenossen sich mit 40 DM in der Tasche neu erfinden mussten.
In weiteren Kontexten und Nuancen steht die 0 für Präzision und Maßarbeit. „Zero Tolerance“ meint eben nicht nur das politische Programm des hart hinlangenden Law-and-Order-Staates, sondern auch die Ingenieursethik minimaler Fehlertoleranz. Name und Brand des japanischen Designlabels ±0, von dem unter anderem der wandhängende CD-Spieler für das Designkaufhaus Muji stammt, repräsentieren das Ideal des ganz genau Richtigen. Der federführende Designer Naoto Fukasawa präzisiert: „etwas, das zugleich faszinierend, aber dennoch vollkommen normal ist, etwas, bei dem man im ersten Moment schon weiß, dass es genau das ist, was man schon immer wollte.“ Es bleibt aber dabei, dass die 0 für die Gestaltung letztlich nur ex negativo eine Rolle spielt und allen anderen Zahlen die Bühne bereitet: als „unbewegter Beweger“, wie es bei Aristoteles über Gott heißt.
Was Sie schon immer über 1 wissen wollten
Streng genommen trifft, was für die 0 gilt, auch für die 1 zu. Sie ist zwar einerseits und unbestreitbar die strahlendste, perfekteste und göttlichste aller Zahlen, andererseits auch wieder nicht. Von den Pythagoräern wurde sie nicht als Zahl angesehen, sondern vielmehr als Grund und Anfang aller Zahlen. Die „Monas“ markierte für sie den Übergang vom Unsagbaren und Unteilbaren zum Zähl- und Messbaren. Praktisch stimmt das: Ein Ding kann man nicht zählen. Ein einzelnes Objekt, „one of a kind“, stellt eine Singularität dar. „Ohne Zweifel ist die Erde ein Einzelding“, hatte schon Augustinus beobachtet. Selbst Graf Zahl aus der Sesamstraße beißt sich an so etwas seine Vampirzähne aus.
So gesehen lässt sich überhaupt nur sinnvoll von der Einheit reden, wenn im Hintergrund eine abwesende Vielheit oder Menge steht. Das gilt sowohl für die Maß-, Rechen- oder Währungseinheit, die unterschiedliche Quantitäten zueinander in Bezug setzt und vergleichbar macht, als auch für die symbolische Einheit, die einen historischen oder zukünftigen Fluchtpunkt darstellt. Nur dort, wo vorher – wie beim geteilten Deutschland – zwei oder mehr Teile vorhanden waren, lässt sich eine Einheit schmieden oder stiften. Nur wo die Welt fragmentiert ist, die Menschen mit unterschiedlicher Zunge reden, Männchen und Weibchen in permanentem Geschlechterkrieg liegen, lässt sich der Verlust einer ursprünglichen kosmischen oder göttlichenEinheit überhaupt beklagen. Entsprechend poetisch verklärt schreiben Schimmel und Endres über die 1, sie „wurde zum Symbol des Ur-Einen, Nicht-Polaren, Göttlichen; sie umfasst Zusammenhang, Gesamtheit und Einheit und ruht in sich selbst, doch steht sie hinter allem Geschehen“.
Sehnsucht nach einer ursprünglichen Einheit ist keine Spezialität der monotheistischen Weltreligionen, sondern ein weit verbreitetes – wenn man so will: archetypisches – Denkmuster. C.G. Jung selbst vertrat ein unistisches Weltbild, das des „Unus Mundus“, wonach psychische und physikalische Vorgänge, Geist und Materie eine gemeinsame Metaebene haben und letztlich in einer Welt stattfinden. Leibniz’ Idee von der „Monade“ gründet auf Vorstellungen, die sich über die christliche Mystik und Hermetik
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