Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Finsternis schied, existieren Kontraste, Gegensätze, Antagonismen, Widersprüche und Polaritäten, die spannungsgeladen sind und so das Leben spannend machen.
Das Denken in Gegensätzen und Dualismen durchzieht die gesamte Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Ohne die Differenz könnten wir nichts erkennen oder begreifen, weshalb Gregory Beatsons berühmte Definition der Information und dessen, was sie vom Rauschen unterscheidet, lautet: „A difference which makes a difference“ – eine Differenz, die den Unterschied ausmacht. Wie Aristoteles’ System der Polaritäten basierte auch die antike Religion des Manichäismus auf der Lehre von den zwei Naturen: Licht und Finsternis, gut und schlecht – weshalb wir heute noch grobes Schwarz-Weiß-Denken als „manichäisches Weltbild“ abqualifizieren. Platons Unterscheidung von Ideen- und Dingwelt wird bei Descartes zum Leib-Seele-Problem: Wie können Inhalte aus der physischen Welt überhaupt ins Bewusstsein gelangen? Dabei ist der cartesianische Dualismus, der Philosophen bis heute umtreibt, nur das bekannteste Dualismus-Konzept unter endlos vielen, dicht gefolgt etwa vom Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik.
Niklas Luhmann erklärt in seiner soziologischen Systemtheorie das Funktionieren ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche über ihren je eigenen binären Code. Für die Wirtschaft wäre diese Leitunterscheidung Zahlung/Nicht-Zahlung, in der Wissenschaft gilt der Code wahr/unwahr, für die Kunst stimmig/nicht stimmig. Damit sind wir schon fast beim Computer. Wenn man so will, liefert die 2 über die binäre Codierung das Betriebssystem unserer heutigen Welt. Waren in der analogen Welt noch graduelle Abstufungen möglich, zerlegt die Digitalisierung alles und jedes, Texte, Töne und Bilder, in den diskreten Binärcode Strom/Nicht-Strom, den Dualismus von 0 und 1.
Die stärkste symbolische Aufladung erfährt die 2 im Kreuz: zwei Linien, die sich im rechten Winkel schneiden, eine Horizontlinie und eine Achse des Erhabenen: ein Symbol von archaischer Wucht und schlichter Größe. Schon in der Steinzeit wurde es in Höhlenwände geritzt, und nicht umsonst gilt das christliche Kreuz als eines der besten Logos aller Zeiten. Gerne wurde es deshalb auch in außer-religiösen Kontexten verwendet: im Roten und Blauen Kreuz ebenso wie in den Nationalflaggen Norwegens, Schwedens und der Schweiz. Beim Logo-Klassiker des Pharmakonzerns Bayer besteht es aus zwei sich kreuzenden Namensschriftzügen im Kreis.
Auch für den Relaunch des Musiksenders VIVA Zwei im Jahre 1996 kam die Agentur Boros auf das reduzierte Kreuz-Symbol. Das neue Logo, ein waagerecht gestrecktes Kreuz, tauchte in Printkampagnen verschlüsselt in Form von abgebrannten Streichhölzern oder Bandsalat aus dem Kassettenrekorder auf – die gläubige Anhängerschaft würde es schon entziffern können. Als Guerilla-Marketing-Maßname wurde das VIVA-Zwei-Kreuz wie ein Sektenzeichen an innerstädtische Wände gesprüht. Zwar konnte auch das den Sender auf Dauer nicht retten, der 2002 den Sendebetrieb einstellte, aber die ehemalige VIVA-Zwei-Moderatorin Charlotte Roche trägt das zeitweilige Erkennungssymbol für Independent-Fans bis heute auf den Oberarm tätowiert.
Dagegen schreiben Schimmel und Endres: „Die Zwei ist das Auseinanderfallen der absoluten göttlichen Einheit; sie ist die mit der geschöpflichen Welt verbundene Zahl“. Aber die 2 ist nicht nur gegensatz- und konfliktgeladen, sondern gleichermaßen Stifterin von Harmonie: Sie begründet unsere Vorstellung von Symmetrie. Das Kreatürliche der 2 leitet sich auch daraus ab, dass die meisten Lebewesen aus praktischen Gründen bilateral symmetrisch aufgebaut sind und über zwei äußerlich spiegelbildliche Hälften verfügen.
Trotz oder gerade wegen des ontologischen Dualismus von „ich“ und „alles andere“ tendieren wir dazu, überall uns selbst wiederzuerkennen. Deshalb braucht es nicht viel, um aus zwei Punkten ein Gesicht werden zu lassen. Umgekehrt fällt es schwer, zwei Punkte nicht als Augen zu interpretieren. Punkt, Punkt, Klammer, Strich, fertig ist das Emoticon, mittels dessen sich sogar komplexe Gefühle wie Verwunderung darstellen lassen (:-o). Internetfirmen wie Google, Yahoo oder Dooyoo setzen auf diesen Effekt. Ihre typografischen Logos schauen uns aus dem Bildschirm heraus mit großen Augenan, heischen unsere Aufmerksamkeit und Empathie. Die mittlerweile abflauende Namensmode des Doppel-o legt Zeugnis ab von
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