Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
experimentell ermittelte Durchschnittswert der Ergebnisse nahe beim Goldenen Schnitt liegt (siehe Kapitel X), bedarf jede Verteilung, die von der naheliegenden Fifty-fifty-Lösung abweicht, einer Begründung. Das macht, sobald man die Probanden darüber kommunizieren lässt, die Mitte zum fokalen Punkt. Bei allen anderen Verteilungen müsste eine Antwort auf die Frage gefunden werden: Wenn nicht die Hälfte, was sonst? Und warum? Mathematische Schlichtheit übt anscheinend einen starken Magnetismus aus, wobei in diesem Fall auch Grundannahmen über Fairness ins Spiel kommen. Die Mitte, das ist da, wo man sich trifft – im konkreten wie im metaphorischen Sinn.
Halbe und Runde
Mithilfe des beschriebenen Verteilungsspiels lässt sich plausibel machen, warum im Dezimalsystem die 5 und die 50 als Zahlen der Ausgewogenheit und des vernünftigen Mittelmaßes wahrgenommen werden, aber auch als Scheidepunkte, von denen aus die Dinge unterschiedliche Richtungen einschlagen können. Mit Abstrichen gilt das auch für die 6, die als halbes Dutzend ein ähnliches Schicksal teilt. Man müsste hier also streng genommen von fokalen Punkten zweiter Ordnung sprechen, die dadurch Bedeutung erlangen, dass sie genau die Hälfte einer markanten Größe – des fokalen Punktes erster Ordnung – bilden. Kein Wunder, dass die sozialistischen Planwirtschaften immer mit 5-Jahres-Plänen operierten: So konnte man die permanente Illusion aufrechterhalten, dass man zwar noch nicht auf dem Niveau des Westens angekommen, aber auf einem guten Weg sei.
Im Guten wie im Schlechten verkörpern die Halbzahlen die Eigenschaften des Mittelmaßes. Wie stark die Mitte insbesondere in der deutschen Geistesgeschichte emotional und symbolisch besetzt ist, hatder Historiker Herfried Münkler in Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung herausgearbeitet: „Die Mitte gilt als ein Ort der Sicherheit und der Beständigkeit“, schreibt er in der Einleitung. „Während links und rechts Gefahren drohen und sich die Avantgarde in unerkundete Gebiete vorwagt, verspricht die Mitte Ausgleich, Wohlstand, Frieden.“ Gut möglich, dass etwas von diesen Konnotationen im kollektiven Unbewussten auf die Charakteristika der typischen Halbzahlen abgefärbt hat und uns die 5 und die 6 deswegen vernünftig, friedlich und sympathisch erscheinen.
Die Römer kannten neben den Zehnern, Hundertern und Tausendern auch das V für die 5, das L für die 50 und das D für 500 als gleichberechtigte Zahlensymbole. Im Zuge der großen Vereinheitlichung nach der Französischen Revolution bekamen die Halbzahlen erneut eine Sonderrolle bei der Einführung des metrischen Systems zugesprochen. Stanislas Dehaene schreibt: „Obwohl jede Potenz von Zehn einen eigenen Namen erhielt – Millimeter, Zentimeter, Dezimeter, Meter und so weiter –, war der Abstand zwischen diesen Einheiten doch zu groß, als dass sie im Alltag tauglich waren. Deshalb verfügten die französischen Gesetzgeber, dass jede Dezimaleinheit ihr Doppel und ihre Hälfte haben solle.“ Daraus ergibt sich die Reihe 1, 2, 5, 10, 20, 50, 100, deren Alltagstauglichkeit sich schon daran zeigt, dass bis heute das Bargeld der meisten Währungen nach dieser Stückelung unterteilt ist. „Sie spricht unseren Zahlensinn an, weil sie sich einer exponentiellen Folge annähert und doch nur kleine runde Zahlen enthält“, notiert Dehaene dazu – klein deshalb, weil die Ziffern 6, 7, 8 und 9 bei der Bildung dieser Reihe nicht auftauchen.
Mit „rund“ aber benennt Dehaene genau jene gefühlte Alltagsqualität, die sich auch an der Häufigkeit ablesen lässt, mit der diese Zahlen in gesprochenen und geschriebenen Texten auftauchen. Die gängige Einteilung des Bargeldes spiegelt sich im verbalen und schriftlichen Zahlengebrauch wider, wo die runden Summen durch ihre signifikante Häufigkeit hervorstechen. Laut Dehaenes Untersuchungen zählen im Abschnitt zwischen 10 und 100 über verschiedene Sprachen und Kulturen hinweg demnach die 12, die 15, die 20 und die 50 zu den runden Zahlen. „Glatte Summen“ sind demnach Beträge, die sich an dieser Stückelung orientieren oder sich leicht daraus zusammensetzen lassen. Allgemein gilt: Stückelung und Anordnung erzeugen fokale Punkte. Bei der Uhrzeit ergeben sie sich aus der Vierteilungdes Ziffernblattes. 20:15 Uhr ist also eine „runde Uhrzeit“, nicht weil dann das Abendprogramm im Fernsehen beginnt, sondern weil wir sie als „Viertel nach acht“ oder, wie in manchen Gegenden,
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