Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
„Viertel neun“ ausdrücken können.
Die stärksten fokalen Punkte oder „rundesten Zahlen“ auf dem abendländischen Zahlenstrahl bilden aber die kleinen Vielfachen von 10 und die glatten 10er-Potenzen. Die runden 10er, 100er und 1.000er beanspruchen scheinbar aus eigenem Recht eine besondere Bedeutung. Was eine Zahl rund macht, hängt, wie Bengt Sigurd in seinem Aufsatz „Round Numbers“ darlegt, wesentlich von der Zahlenbasis ab. In der dezimal geprägten Kultur ist das die 10, während zum Beispiel in Frankreich noch Spurenelemente des normannischen Vigesimalsystems mit der Basis 20 durchscheinen („quatre-vingt-dix“). Bei Schätzungen, ungefähren Angaben und unbestimmten Mengen bilden die Vielfachen dieser Basis den naheliegenden Näherungswert und Referenzpunkt. Sie haben gewissermaßen ein Hinterland, das sie bei Bedarf spielend eingemeinden können. Die Aussage „9 ist im Wesentlichen 10“ ist also zutreffend, während das Gegenteil nicht stimmen würde.
Oft sind auch sprachliche Einfachheit oder Konventionen maßgeblich, wenn wir unbestimmte Anzahlen auf runde Zahlen reduzieren. Deshalb hat man dem Kind etwas „schon hundertmal gesagt“, ohne dass es darauf gehört hätte. Deshalb hat man sich im Schlager „tausendmal berührt“, ohne dass etwas passiert ist. Und deshalb hatteman so großen Respekt vor dem Millenniumswechsel, bei dem – wir erinnern uns – mutmaßlich nicht nur jeder Computer abstürzen, sondern gleich die ganze Welt hätte untergehen sollen.
Überhaupt liegt die Tatsache, dass wir Geschichte in mundgerechte Einheiten von Jahrhunderten und Dekaden einteilen, von den „Roaring Twenties“ und „Swinging Sixties“ sprechen, einzig und allein in der Prominenz des Dezimalsystems begründet. Dadurch verdichten sich historische Ereignisse, die in einem solchen Abschnitt liegen, retrospektiv zu einer einheitlichen Gestalt, während die Überlappungen tendenziell aus dem Blick geraten – was durchaus nicht immer erkenntnisfördernd ist. So spricht etwa der Historiker Eric Hobsbawm vom „kurzen 20. Jahrhundert“, das von der russischen Revolution 1917 bis zum Mauerfall 1989 reicht. Geschichtliche Ereignisse und sinnfällige Epochen halten sich nicht unbedingt an das Raster des Dezimalsystems – und man ist nicht nur als Historiker mitunter gut beraten, der Gravitation mathematischer Schlichtheit zu trotzen.
Manchmal befördert die seltsame Attraktion runder Zahlen regelrecht unvernünftige Ambitionen. Wie sonst erklärt sich, dass der über eine Million Euro teure Bugatti Veyron als schnellster straßenzugelassener Seriensportwagen ausgerechnet mit 1.001 PS auffährt? Unwahrscheinlich, dass die Entwickler zufällig bei diesem Wert gelandet sind. Vielmehr fängt, wenn die 1.000er-Grenze einmal durchbrochen ist, das Märchenwunderland an, das wir aus Tausendundeine Nacht kennen. Wer diese Regionen betritt, kann getrost alle Vernunft fahren lassen.
Magnetische Schwellenwerte
Selbst im vermeintlich durchrationalisierten Wirtschaftsleben der Börsen spielen fokale Punkte eine bedeutende Rolle. Der große Ökonom John Maynard Keynes hat den Aktienmarkt einmal mit einem seltsamen Schönheitswettbewerb verglichen, bei dem es nicht darum geht, das schönste Model zu küren, sondern auf das zu setzen, das die Mehrheit der anderen Jurymitglieder für das schönste hält. Das Beispiel veranschaulicht, warum Anleger sich nicht unbedingt an realwirtschaftlichen Vorgaben und den Fundamentaldaten der Unternehmen orientieren, sondern versuchen, bei ihrer Einschätzung von Aktien die Meinung und das Verhalten anderer Marktteilnehmer zu antizipieren.
In der Praxis zeigt sich die Relevanz dieser Überlegungen im realen Verlauf von Aktienkursen und Indizes, die an bestimmten Schwellenwerten hängenbleiben, als wären diese klebrig oder magnetisch. Börsianer sprechen von Widerstandslinien, wo es unwahrscheinlich ist, dass ein Wertpapier oder der Gesamtmarkt diesen Schwellenwert nach oben durchbricht, von Unterstützungslinien, wo ein Kursverfall scheinbar automatisch abgebremst wird. Oft liegen diese Linien bei runden Werten, Hundertern oder Tausendern. So hing der DAX zum Jahresanfang 2011 hartnäckig an der Widerstandslinie von 7.000 Punkten fest, bevor er sie nach oben hin überschritt.
Chartanalysten behandeln diese Linien, als wären es natürliche Gegebenheiten, wie etwa die topografische Oberfläche einer Landschaft mit ihren Tälern und Steigungen. Dabei ist die einzige
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