Was Sie schon immer über 6 wissen wollten
Zahlungsbeträge längst keine Rolle mehr spielen. In der wissenschaftlichen Literatur gehen die Meinungen über die Sinnhaftigkeit dieser Preisgestaltung deutlich auseinander, schon deshalb, weil die Existenz und Wirksamkeit psychologischer Preisschwellen umstritten ist. Die experimentelle Empirie dazu ist widersprüchlich und sagt zudem wenig darüber aus, wie sich Konsumenten in realen Entscheidungssituationen verhalten würden.
Gerade diese Unsicherheit ist aber der Grund dafür, dass sich 9er-Preise so hartnäckig halten, auch wenn ihnen nicht mehr als psychologischer Aberglaube zugrunde liegen mag: Weil die Preisgestalter hinsichtlich der Sensibilität ihrer Kundschaft gegenüber Schwellenwerten völlig im Dunkeln tappen, empfiehlt sich allein aus der konservativen Abwägung heraus ein Festhalten an der Konvention. Jedes Ausscheren aus dem Herdenverhalten würde das unabsehbare Risiko eines Nachfrageeinbruchs bergen – so wie Blaise Pascal aus rationalistischen Erwägungen heraus lieber an Gott glaubte, weil er das Risiko, nicht an ihn zu glauben, für den Fall, dass er doch existierte, höher einschätzte, als im umgekehrten Fall die Verluste der vergeblichen Liebesmühe.
Und paradoxerweise zieht der Trick bei uns Konsumenten, obwohl wir ihn durchschauen. Denken wir aktiv darüber nach, erscheinen 9er-Preise auf der Ebene der Einzelofferte manipulativ und unseriös. Doch sie entfalten spätestens dort ihre Wirkung, wo es um die Beurteilung des gesamten Geschäftes geht. Die Kölner Handelsforscher Lothar Müller-Hagedorn und Ralf Wierich haben 2005 eine groß angelegte Studie Zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Preisen durch Konsumenten durchgeführt, bei der sie 1.200 Probanden Fotos von Supermarktregalen für Zahnpasta mit unterschiedlichen Arten der Auspreisung zeigten und sie um eine Einschätzung baten. Dabei zeigtesich, „dass glatte und unübliche Preise im Vergleich zu auf 9 endenden Preisen verschlechternd auf das Preisgünstigkeitsurteil wirken“. Und weil die wenigsten Verbraucher sich wirklich die Mühe machen, Preise über ein breites Sortiment von Zahnpasta bis Blauschimmelkäse hinweg zu vergleichen und sich eine Übersicht zu verschaffen, interpretieren sie Imagefaktoren und äußerliche Marker als Indizien für die Preisgünstigkeit eines Sortiments oder des gesamten Ladens. Wenn „wenig oder keine Informationen über die Preisgünstigkeit bestimmter Angebotspreise“ vorliegen, so stellt Wolfgang Diller in seinem Standardwerk Preispolitik fest, finde häufig „eine Urteilsgeneralisierung vom Preisimage des Geschäftes“ auf die Vorteilhaftigkeit einzelner Angebote statt. Wir fallen also auf das schiere Image und die äußere Anmutung des Billigen herein, obwohl – wie andere Studien belegen – die Angebote und Geschäfte mit den 9er-Preisen meist nicht zu den billigsten im Markt gehören. Merke: Nicht alles, was billig daherkommt, ist es auch.
Björn Harste, der als Betreiber eines SPAR-Supermarktes in Bremen Neustadt seine Gedanken zu Themen aus Handel und Konsum im Blog Shopblogger.de veröffentlicht, wartet mit einer deutlich abgehangeneren Erklärung für das Phänomen der 9er-Preise auf, die wieder den Bogen zurück zur kulturellen Konvention fokaler Punkte schlägt: „Die Kunden sind nun mal in den letzten Jahrzehnten in diese Richtung erzogen worden. Wenn ein durch die Kalkulation entstandener Preis von z.B. 1,62 € an der Ware stehen würde, wären viele Kunden sehr irritiert.“
Die schlichte Botschaft der 9er-Zahlen über die Höhe des zu entrichtenden Betrages hinaus wäre demnach die Information, dass es sich dabei um einen Preis handelt. Um einen Preis, über den man nicht weiter nachzudenken braucht, weil er sich an die Gepflogenheiten hält und dem Genre des Einzelhandelspreises vollumfänglich entspricht. So sieht das auch der Typograph Erik Spiekermann: „Das ist inzwischen so eine Art Code geworden: Mit 99 oder 98 muss es ein Preis sein. Keine Temperatur, keine lebendige Größe, sondern ein Preis.“ Jede andere Form der Preisgestaltung wäre erklärungsbedürftig, machte uns stutzig und würde unnötige Fragen aufwerfen – 9er-Preise erklären sich von selbst. Sie wirken, als wären sie immer schon da gewesen, als hätten Gott oder die Natur sie gemacht. Eben ein ganz normaler Preis. Punkt.
IX. Geld und Preise
Geld und damit Preise sind merkwürdige Zwischendinge, irgendwo auf der Grenze zwischen den Ländern Mediokristan und Extremistan angesiedelt,
Weitere Kostenlose Bücher