Was starke Männer schwach macht
würde.
Irgendwann würde sie die Gläubiger des Brady’s natürlich bezahlen müssen, aber glücklicherweise hatten sich alle mit einem Aufschub einverstanden erklärt, als sie ihnen ihre Pläne geschildert hatte.
Sie hatte alles genau durchkalkuliert. Es war durchaus realisierbar.
„Das können Sie doch nicht machen!“, protestierte Tony. „Bitte, Julie, ich flehe Sie an! Sie zerstören damit ein Stück von Oak Cliffs Geschichte.“
Er sah sie so eindringlich an, dass Julie prompt mit dem Zählen der Biergläser durcheinanderkam. Musste er sie denn so ablenken? Wie weit würde er wohl gehen, um sie dazu zu bringen, ihre Meinung zu ändern? Hastig verdrängte sie diesen Gedanken wieder.
Schließlich hatte sie erst vor vier Wochen ihre Verlobung gelöst. Sie war noch lange nicht darüber hinweg, dass ihr Verlobter sie betrogen hatte. Genauso wenig über die schockierende Erkenntnis, dass er und seine Familie von ihr erwarteten, sein Verhalten stillschweigend zu dulden. So oder so, sexy Tony Veracruz hatte in ihrem Leben zurzeit nichts zu suchen.
„Mr Veracruz, sehen Sie sich doch mal um!“
Er gehorchte. „Ja, und?“
„Diese Bar ist ein absoluter Schandfleck! Ich möchte etwas Tolles draus machen, ein echtes Schmuckstück, auf das Oak Cliff stolz sein kann.“
„Na ja, ich gebe gern zu, dass man hier mal gründlich sauber machen könnte.“
„Um den Dreck von diesen Dielen abzubekommen, bräuchte man einen Sprengsatz. Und alles stinkt nach abgestandenem Bier und Zigarettenrauch.“
„Wir helfen Ihnen gern beim Saubermachen“, versuchte Tony es erneut.
„Es tut mir leid, Tony.“ Das war noch nicht einmal gelogen. Anscheinend war das Brady’s ein Ort gewesen, an dem die Gäste sich irgendwie zu Hause gefühlt hatten. Julie hatte Verständnis für ihr Bedürfnis, das zu bewahren. Sie selbst hätte auch gern das Gefühl gehabt, irgendwo hinzugehören.
Auf jeden Fall nicht nach Pleasant Grove, dem Arbeiterstadtteil, in dem sie aufgewachsen war. Sie hatte schon immer mehr aus ihrem Leben machen wollen und sich am Ziel ihrer Wünsche geglaubt, als sie bei Bailey-Davidson’s anfing. Neun Jahre ihres Lebens hatte sie in dem Kaufhaus gearbeitet – neun Jahre, in denen sie erst eine Ausbildung absolviert hatte und dann stetig die Karriereleiter hochgeklettert war. Am Community College hatte sie BWL-Kurse belegt, um sich für einen Leitungsposten zu qualifizieren.
Sie hatte das Kaufhaus geliebt: die edlen Kleidungsstücke, das feine Geschirr und die Designerbettwäsche. Und sie hatte sich unter den kultivierten, höflichen Kunden sehr wohlgefühlt.
Dann war sie mit Trey Davidson zusammengekommen, und seine Freunde hatten sie akzeptiert, obwohl sie weder an einer Elite-Uni studiert hatte noch aus einer guten Familie stammte. Damals hatte sie gedacht, endlich ihren Platz im Leben gefunden zu haben: als künftige leitende Angestellte von Bailey-Davidson’s und Ehefrau des Kaufhauserben.
Und ihr Traum schien tatsächlich in Erfüllung zu gehen.
Doch dann hatte er sich von einem Tag zum anderen in einen Albtraum verwandelt. Julie hatte sich wieder genauso halt- und orientierungslos gefühlt wie in ihrer Kindheit und nicht die geringste Ahnung gehabt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte.
Als dann plötzlich Onkel Brady gestorben war und ihrer Mutter das Haus mit der Bar hinterlassen hatte, war Julie das wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Belinda’s Tearoom würde ihr neues Zuhause werden, ihr eigenes kleines Universum, in dem sie sich mit schönen Dingen, gutem Essen und Menschen umgeben würde, die ihre Anstrengungen zu schätzen wussten.
Tony Veracruz allerdings schien nicht zu diesen Menschen zu gehören. Schade eigentlich. Mit einem vernünftigen Haarschnitt und einem Armani-Anzug hätte er bestimmt einen überzeugenden Manager abgegeben, aber wahrscheinlich war das nicht sein Ding. Er wirkte wie jemand, der mit sich selbst und seinem Leben im Reinen war.
Und warum auch nicht? Vielleicht machte ihn ja genau das so anziehend – dass er sich so wohl in seiner Haut zu fühlen schien. Einer tollen Haut übrigens …
„Wie wär’s, wenn ich Sie morgen zum Abendessen einlade?“, fragte Tony spontan. „Wir könnten ein paar Burger essen gehen. Bei dieser Gelegenheit können Sie mir mehr von Ihrer Idee mit dem Tearoom erzählen.“
Die Versuchung, die Einladung anzunehmen, war groß, zumal Julie so knapp bei Kasse war, dass sie schon eine Ewigkeit nicht mehr ausgegangen
Weitere Kostenlose Bücher