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Was uns glücklich macht - Roman

Was uns glücklich macht - Roman

Titel: Was uns glücklich macht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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ist wie ein Frühling ohne Sonne.
    Tischmanieren waren überhaupt sehr wichtig. Als ich sechs war, bekam ich Benimmunterricht, wo man mir beibrachte, wie man sich auf gesellschaftlichen Veranstaltungen bewegte. Ich ging dorthin, während meine Freundinnen im Religionsunterricht saßen. Für meine Mutter war ordentliches Benehmen eine Religion.
    Ich weiß, manche Mädchen hätten sich dagegen aufgelehnt, aber ich nicht. Im Gegenteil: Es gefiel mir. Es gefiel mir, beim ersten Gang des Menüs die richtige Gabel zu verwenden. Es gefiel mir, dass ich wusste, wie man auf eine Einladung antwortet. Es gefiel mir, und es gefällt mir noch: Das Leben ist viel einfacher, wenn man weiß, wie man sich ordentlich benimmt. Das ist einer der Gründe, warum das hier so hart ist für mich. Ich habe einfach keine Ahnung, wie man richtig darauf reagiert, wenn einem gesagt wird, man hätte triple-negativen Brustkrebs. Das ist alles so schnell gegangen, dass ich das Gefühl habe, als hätte ich zugesehen, wie es jemand anderem passiert, einer Figur in einem Buch, einer Figur, die mir gerade furchtbar leidtut.
    Ich bin eine Frau, die zwei Ärzte in ihrem Leben hat, eine Frauenärztin und einen Kinderarzt, und von den beiden sehe ich den Kinderarzt, Dr. Marks, bei weitem öfter. Er ist jung, attraktiv, lustig und nett; ich habe mir oft gedacht, dass ich, wenn ich je eine Affäre anfangen wollte (was ich natürlich niemals tun würde), mir einen Mann wie ihn suchen würde. Vor einem Monat bin ich Dr. Marks zufällig im Drugstore begegnet und habe beiläufig bemerkt, dass mein Mann gerade vierzig geworden sei und dass ich in ein paar Wochen ebenfalls vierzig werden würde. Und weil er so ist, wie er ist, hat er gefragt, ob ich schon einen Termin für meine erste Mammografie gemacht hätte. Ich habe gesagt, ich hätte daran gedacht, und er hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich noch am selben Tag bei meiner Frauenärztin anrufen würde. Und ich habe es getan, vielleicht, weil er so süß ist. Eine Woche später stand ich mit nacktem Oberkörper im Röntgenraum von Greenwich Radiology.
    »Sehen Sie eigentlich, dass sie echt sind?«, fragte ich den MTA , bemüht, ihn zum Lachen zu bringen, während er meine Brüste auf die unerotischste Weise zurechtrückte, die man sich vorstellen konnte.
    »Ja, allerdings.«
    »Ich spiele mit dem Gedanken, sie mir vergrößern zu lassen«, sagte ich. »Würde das die Sache hier erschweren?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Leider neige ich dazu, eine Menge zu reden, wenn ich nervös bin«, erklärte ich.
    »Kein Grund, nervös zu sein«, sagte er und presste meine Brust in die glänzende, kalte Maschine, die nach dem Spray roch, mit dem ich früher den Staub von LP s entfernt habe. »Gar kein Grund.«
    Wie sich herausstellte, täuschte er sich da.
    Wenn ich wirklich eine Figur in einem Buch wäre, dann würde mir der Radiologe am Anfang des nächsten Kapitels sagen, er sähe einen Schatten, irgendetwas Kleines, zu winzig, um es zu tasten, es würde ihn überraschen, wenn ich es tasten könnte. Im Ultraschall stellt es sich als Verdichtung dar, von der eine Gewebeprobe entnommen werden muss. Er fragt mich, ob ich erst meinen Mann anrufen möchte. Ich sage nein. Eigentlich höre ich gar nicht richtig zu. Beziehungsweise, ich höre zu, nehme aber nichts auf, es dringt nicht zu mir durch. Es ist, als würde es jemand anders passieren. Gesagt zu bekommen, man habe Krebs, fühlt sich nicht sehr real an, selbst wenn man nur eine Figur in einem Buch ist.
    Dann reinigt der Radiologe eine Stelle außen an meiner Brust mit einem Wattepad, das sich weich, nass und kalt anfühlt, und dann habe ich eine Nadel in der Brust, und es wird eine Biopsie unter Ultraschallkontrolle durchgeführt. Es tut weh, aber nicht so sehr, dass ich weinen muss. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt weinen könnte. Schon das Atmen fällt mir schwer. Und dann sitze ich auf einmal wieder in meinem Wagen und bin unterwegs nach Hause. Ergebnisse gibt es erst nach achtundvierzig Stunden. Zum Glück ist mein Mann unterwegs. Wahrscheinlich wird er spätabends anrufen. Damit befasse ich mich, wenn es so weit ist. Zuerst muss ich das Essen hinter mich bringen.
    Die Kinder sind schon da, als ich nach Hause komme. Das eine braucht Hilfe bei den Hausaufgaben, das andere ist aufgebracht, weil »Connor hat gesagt, ich bin dumm«. Für sie sind das die echten Probleme. Sie brauchen mich, und ich bin für sie da, wie immer. Ich helfe ihnen beim Rechnen

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