Was uns nicht gehört - Roman
Stimme, verbesserte ich mich, und lehnte mich gegen die Wand. Soweit ich das beurteilen konnte, sang sie ausschließlich französische Lieder, diese freilich genauso ausschließlich auf Deutsch beziehungsweise dem, was sie dafür hielt, aber ihr starker französischer Akzent machte ihre Stimme nur noch betörender. Marie Mercier hatte keine Band und musste stattdessen einen CD-Player bedienen, der ihr die Begleitmusik einspielte und den sie ihre groupe plastique nannte. Von Zeit zu Zeit freilich gab es kleinere Aussetzer, und als die Musik schließlich mitten in einem Lied komplett ausfiel, dauerte es Minuten, bis Marie Mercier ihre groupe plastique zum Weiterspielen überreden konnte, aber nicht einmal das vermochte ihren Auftritt für mich zu entzaubern.
Ganz anders Sonja und ihr Jaguar-Mann, die ich nach dem fünften oder sechsten Lied direkt vor mir in der letzten Reihe entdeckte und die mir fortan mit ihrem Teenager-Geschlecke den Abend verdarben. Das heißt, in Wahrheit sah ich nur Sonja schlecken. Immer wieder knabberte sie am Ohr ihres Begleiters oder ließ ihre Zungenspitze darin verschwinden, einmal gar umschloss sie seinen Zeigefinger mit ihren Lippen und bewegte sie rhythmisch auf und ab. Dabei fühlte ich mich durch ihr Tun noch nicht einmal persönlich herausgefordert. Ich war abgelenkt, abgelenkt von Marie Mercier und ihrer Stimme, das war es, was ich Sonja übelnahm. Irgendwann ging ich hinaus und beschloss, mir den Rest des Konzerts am nächsten Abend anzuhören, hoffend, dass Sonja Marie Mercier nicht im Dreierpack gebucht hatte, aber so verrückt nach französischen Chansons war vermutlich nicht einmal sie.
Das Konzert dauerte über zwei Stunden, und nachdem Marie Mercier vier Zugaben gesungen hatte, öffnete sich die Saaltür, und anders als beim Akkordeonorchester Dinkelsbühl sah ich in lauter beglückte Gesichter. Mehrmals brachte ich falsche Jacken, aber keiner der Besucher ließ sich dadurch die Laune verderben. Einzig Sonja wirkte ein wenig nörgelig. Nicht dass sie offen herummaulte, was sie durchaus bisweilen tat, wenn ihr etwas, wofür sie bezahlt hatte, nicht passte. Trotzdem glaubte ich ihr anzusehen, dass dort drinnen nicht alles nach ihren Vorstellungen gelaufen war. Vielleicht das Konzert selbst, vielleicht aber auch ihre Spielchen mit dem Jaguar-Mann, die dieser nicht ausreichend erwidert hatte.
«Ach, du», sagte sie zum Abschied und winkte flüchtig in meine Richtung, dann hakte sie sich unter und ging mit ihm davon.
Ich blieb länger als notwendig und fegte ausgiebig den Vorraum. Anschließend wischte ich den Garderobentresen, auf dem, wenn man flach gegen das Licht schaute, ein paar Fingertapser zu erahnen waren. Kein Mensch sah in einem solchen Winkel auf den Tresen, schon gar nicht gegen das Licht, was nur von meiner Seite aus möglich war, aber ich wollte nicht schon an meinem dritten Abend nachlässig werden. Ich war fast fertig damit, als endlich die Tür der Künstlergarderobe aufging und Marie Mercier herauskam. Sie trug eine graue Jogginghose und darüber ein aufgekrempeltes Männerhemd, das an den Ellenbogen schon ein wenig durchgewetzt war, ihr Mantel hing faltig über ihrer Tasche und wirkte müde und erschöpft wie sie. Nichts an ihr erinnerte an die Frau, die gerade eben noch auf der Bühne gestanden und ihren Schlussapplaus entgegengenommen hatte, am wenigsten ihre Haare, die nicht mehr schwarz und pagenförmig waren wie zuvor, sondern mittellang und blond, durchsetzt mit grauen Strähnen, die ihnen einen silbrigen Glanz verliehen. Ich merkte, dass ihr unangenehm war, was ich sah, oder nein, dass ihr unangenehm war, was ich nicht sah, ihre Mireille-Mathieu-Perücke, die vermutlich wie ihr Paillettenkleid in ihrer Tasche ruhte und dort auf den nächsten Abend wartete. Ein wenig ärgerte ich mich über ihre Verkleidung auf der Bühne, aber mehr noch verstand ich sie einfach nicht. Ihre Stimme war so weit von der Mireille Mathieus entfernt wie ich von meinem Leben als gut versorgter Buchhalter, und ich war mir sicher, dass sie in Wahrheit nichts von dieser albernen Mimikry brauchte. Ohnehin konnte ich mir kaum vorstellen, dass Mireille Mathieu der richtige Köder war, um das Publikum in Massen anzulocken. Mireille Mathieu gehörte in meine Kindheit, wie Roy Black oder Rex Gildo in meine Kindheit gehörten, ich konnte mich nicht erinnern, sie in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren auch nur einmal im Fernsehen gesehen zu haben. Vielleicht war sie auch längst
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