Was uns nicht gehört - Roman
tot, so wie Roy Black und Rex Gildo längst tot waren, aber selbst wenn sie sich noch immer bester Gesundheit erfreute, war ihre Zeit einfach abgelaufen.
Marie Mercier war bereits an der Tür, als sie sich noch einmal nach mir umdrehte.
«Bis morgen», sagte sie, und ich war erleichtert, dass wenigstens ihre Stimme noch immer dieselbe war wie zuvor.
«Bis morgen», sagte auch ich, aber die Tür war schon hinter ihr ins Schloss gefallen, und obwohl ich mich beeilte, das Licht auszuschalten und mir bei Roloff mein Honorar abzuholen, sah ich sie draußen nicht wieder.
Ich schlenderte ein wenig umher, bis ich einer plötzlichen Eingebung folgend den Weg in Richtung Marienstraße einschlug. Vielleicht, so dachte ich, waren alle Gäste des Mahagoni in der Pension Schiller untergebracht, aber dort, wo vor zwei Tagen noch das Akkordeonorchester Dinkelsbühl seinen Kleinbus geparkt und seine Instrumente ausgeladen hatte, stand jetzt eine Kippmulde, halb voll mit dem, was vielleicht einmal ein paar Einbauschränke gewesen waren, die Pension selbst hatte wegen Umbauarbeiten geschlossen. Ich war mir sicher, dass ich ohnehin nicht an der Rezeption nach ihr gefragt hätte, trotzdem war ich nun, da ich Marie Merciers Spur für den Abend endgültig verloren hatte, betrübt. So betrübt, dass ich mich in der Nähe erst einmal auf eine Bank setzte, um über meine Betrübnis nachzudenken, später vertrank ich ein paar Euro meines Abendhonorars im Opossum , einer kleinen Bar unweit des Bahnhofs, die im Fenster mit dem billigsten Bier der Stadt warb.
Ich hatte mich gerade vom Opossum auf den Heimweg gemacht, als ich urplötzlich vor ihr stand. Nicht vor ihr selbst, sondern lediglich vor einem Bild von ihr, aber unzweifelhaft war sie es, die dort abgebildet war, sie oder Mireille Mathieu, wer immer für das Gemälde verantwortlich war, hatte sich nicht mit Feinheiten aufgehalten. Daneben stand die schlichte Botschaft «Französische Lieder» und eine Handy-Nummer, für deren letzte Ziffern der Platz knapp geworden war und die so ein wenig gestaucht wirkten. Das Ganze war aufgemalt auf einen gelben Camping-Bus, der am Straßenrand parkte und hinter dessen Gardinen Licht brannte. So also, dachte ich, lebte es sich als Wiedergeburt des französischen Chansons, als im selben Moment die Tür des Busses aufging und Marie Mercier darin erschien. Ja, obwohl sie noch immer ihre Jogginghose und das aufgekrempelte Männerhemd trug, kam sie mir vor wie eine Erscheinung. Im Gegenlicht des Innenraums ließen sich keine Einzelheiten ihres Gesichts ausmachen, aber daran, dass sie kurz auflachte, konnte ich ablesen, dass sie mich erkannt hatte.
«Tun Sie das öfter?», fragte sie.
Marie Mercier kam zwei Schritte auf mich zu, und erst jetzt sah ich, dass sie wieder ihre Mireille-Mathieu-Perücke trug. Ein wenig verrutscht, wie mir schien, aber das war es nicht, was mich irritierte. Ihre Stimme war nicht mehr dieselbe wie zuvor. Nicht dass ihr irgendetwas von ihrem rauchigen Timbre verlorengegangen wäre, das mich im Mahagoni so in den Bann gezogen hatte. Es war ihr französischer Akzent, der mit einem Mal völlig verschwunden war. Stattdessen glaubte ich einen schwäbischen Zungenschlag zu hören, und ich fragte mich, welche Verkleidung als nächste von ihr abfallen würde.
«Nein», sagte ich, «das ist mein Heimweg.»
Das stimmte und stimmte zugleich nicht, aber ich war froh, dass mir auf die Schnelle überhaupt irgendetwas eingefallen war. Marie Mercier freilich schien sich für meine Antwort nicht weiter zu interessieren. Stattdessen zog sie eine Zigarettenpackung aus der Tasche ihrer Jogginghose und hielt sie mir hin. Ich hatte vor fünf oder sechs Jahren zum letzten Mal geraucht und nicht vorgehabt, noch einmal damit zu anfangen, trotzdem nahm ich eine Zigarette aus der Packung und ließ mir von ihr Feuer geben. Ohne sich selbst eine zu nehmen, steckte sie die Packung zurück in ihre Jogginghose und setzte sich auf die Stufe der Tür.
«Sie machen das aber auch noch nicht lange», sagte sie.
«Den Job an der Garderobe?»
«Nein», erwiderte sie, «rauchen.»
Ich erschrak. Da war es wieder: Alle Welt konnte in mich hineinschauen, ohne dass ich mich dagegen zur Wehr setzen konnte. Sonja, Kremer, die Frau aus dem Café Hornstein, nun auch noch Marie Mercier. Ich sah sie an und wartete darauf, dass sie erneut lachte, aber mit einem Mal wirkte sie ganz ernst.
«Ist schon seltsam», sagte sie, «dass wir immer wieder Dinge tun, die wir
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