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Was uns nicht gehört - Roman

Was uns nicht gehört - Roman

Titel: Was uns nicht gehört - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel , Kimche AG <Zürich>
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drängte sich mein schmerzender Rücken zurück in mein Bewusstsein, und ich wurde wieder ein wenig milder. Vielleicht dachte man Dinge wie diese einfach, wenn man morgens um fünf mit krummem Rücken gegen die Wand lehnte, oder dachte noch Schlimmeres, aber bevor das Schlimme und noch Schlimmere weitere Kreise durch meine Gedanken ziehen konnte, kippte ich gnädig zurück in den Schlaf.
    Am Morgen ging Maria in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Ich wartete einige Minuten, dann telefonierte ich mit dem Pflegeheim. Mein Vater hatte aufgehört zu weinen, lag aber erneut völlig lethargisch in seinem Bett und ließ niemanden an sich heran.
    «Er macht es uns nicht leicht», sagte die Stationsschwester ohne jeden Vorwurf in der Stimme, «aber machen Sie sich keine Sorgen.»
    «Wie soll das gehen?», fragte ich, und während ich noch auf die Antwort der Stationsschwester wartete, hörte ich, wie im Hintergrund Unruhe aufkam.
    Eine schrille Männerstimme rief: «Die 31, schnell!», gefolgt von ein paar hellen Pieptönen, die sich vom Telefon wegzubewegen schienen und schließlich verstummten.
    «Wir haben einen Notfall, ich muss Schluss machen», hörte ich die Stimme der Stationsschwester, auch sie bereits ein Stück entfernt, dann brach die Verbindung ab.
    Mein Vater lag nicht in der 31, sondern zwei Zimmer weiter in der 29, trotzdem versetzte mich die plötzliche Hektik auf der Station in zusätzliche Unruhe. Natürlich wurde im Pflegeheim auch gestorben, aber so nah war der Tod meinem Vater in den Jahren, die er dort verbracht hatte, noch nie gekommen. Dabei war der Patient in der 31 vermutlich noch gar nicht tot. Vielleicht lag er noch nicht einmal im Sterben und war nur aus dem Bett gefallen oder hatte eingenässt oder das ganze mühsam gefütterte Frühstück wieder ausgespuckt. Aber selbst wenn, es hatte nichts mit meinem Vater zu tun. Wie ein Mantra wiederholte ich diesen Satz, so lange, bis ich mich wieder ein bisschen beruhigt hatte. Ich nahm den Lift nach unten, um an der frischen Luft auf andere Gedanken zu kommen, aber die frische Luft hing voller Regen, und ich ging unverrichteter Dinge zurück auf unser Zimmer. Maria blieb lange, und als sie zurückkam, hatte sie nicht mehr als eine Stange Zigaretten und eine Wintermütze gekauft, ein albernes, grobgestricktes Modell mit einem Bommel, der größer war als jeder andere, den ich zuvor gesehen hatte. Die Mütze selbst kam mir indes ein wenig klein vor, und ich fragte mich gerade, wie Maria sie über ihre Mireille-Mathieu-Perücke bekommen mochte, als sie sie mir mit einem Lächeln entgegenstreckte.
    «Für dich», sagte sie, «besser, du hast warme Ohren.»
    Ich zögerte einen Augenblick, dann nahm ich die Mütze und zwängte sie mir Freude heuchelnd über den Kopf, und als ich mich damit im Spiegel betrachtete, sah ich besser aus als erwartet. Ein bisschen vielleicht wie drei Jahrzehnte zurückversetzt, aber durchaus sportiv und tatendurstig, ja, ich sah aus, als könnte ich im Wald bei minus zehn Grad mit drei Axthieben einen Baum fällen, «schön», sagte Maria, «so habe ich mir das vorgestellt.»
    Wir packten unsere Sachen, zahlten und machten uns auf den Weg. Ich wollte Maria eine Freude machen und trug die Mütze auch im Wagen, aber irgendwann zog sie sie mir lachend vom Kopf und warf sie nach hinten. Sie selbst trug die ganze Fahrt über Handschuhe, ein elegantes Ledermodell, das sie, so vermutete ich, erst am Morgen in der Stadt gekauft hatte. Gekauft oder auch nicht, zumindest hatte Maria sie mir aus unerfindlichen Gründen nach ihrer Rückkehr vorenthalten. Jetzt freilich trug sie die Handschuhe wie eine Trophäe, und als sie beim Auffahren auf die Autobahn hochschaltete, sah ich, dass an der Innenseite am Handgelenk noch das Größenschild klebte.
    Wir brauchten keine Stunde bis Montabaur, und als wir dort ankamen und nach kurzer Suche am Stadtrand das Sportlerheim gefunden hatten, in dem Maria am Abend auftreten sollte, lasen wir an der Tür, dass das Konzert abgesagt war. Ohne weitere Begründung, eine handschriftliche Krakelei mit einem Kugelschreiber, dem zum Ende der Nachricht die Tinte ausgegangen war, lieblos wie der Ort, und so sehr ich mit Maria litt, die mit fassungslosem Blick vor dem Schild stand und die schlichten Sätze ein ums andere Mal neu zu lesen schien, hatte ich das sichere Gefühl, dass ihr auf diese Weise etwas erspart blieb.
    «Das geht nicht», sagte sie leise, «so geht das nicht.»
    Ich sah, dass Maria den Tränen nah

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