Was uns nicht gehört - Roman
nicht angerufen, und vermutlich verstand er in solchen Dingen keinen Spaß. Schon gar nicht, sollte er erfahren, dass ich quasi mit seinem letzten Gast durchgebrannt war, ja, durchgebrannt, das Wort gefiel mir. Aber dann krümmten sich die Bilder unserer Flucht vom Vorabend zurück in meine Gedanken, und sofort erschien mir das Wort in einem anderen Licht. Umso mehr, da ich plötzlich von meinem Platz am Fenster unter den Figuren im Park zwei Männer entdeckte, die mir weder vom Alter noch von ihrem Tempo ins Spiel zu passen schienen. Zudem hatten sie anders als alle anderen ein festes Ziel im Visier, den Eingang des Hauptgebäudes, auf den sie zusteuerten, als gälte es, keine Zeit zu verlieren, doch dann blieben sie plötzlich stehen und umarmten sich, küssten sich vielleicht sogar und gingen kurz darauf in unterschiedliche Richtungen parkauswärts davon.
Marias Konzert begann um sechzehn Uhr, aber schon zehn Minuten vorher waren die Tische im Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Hundertfünfzig, vielleicht zweihundert rüstige Senioren, die in ihren Dreißigern oder Vierzigern gewesen sein mochten, als Mireille Mathieu durch die Samstagabendshows gezogen war, vor sich Kaffee- oder Teekännchen und Kuchen mit Sahnehäubchen, die von vier jungen Bedienungen auf großen Servierwägen an die Tische gefahren wurden. Viele hatten sich für den Nachmittag herausgeputzt, und schon mit dem ersten Lied, das Maria sang, waren sie ihr verfallen. «Es geht mir gut, merci Chéri, es geht mir gut, das macht die Liebe», mehr Glück in einem Satz war kaum vorstellbar, und als Maria mit in den Nacken geworfenem Kopf ihr letztes, langgezogenes Chéri sang, brandete der erste Beifall auf. Maria schüttelte mit einer knappen, ruckartigen Bewegung ihren Pagenkopf und fror ihn für Sekunden ein, bevor sie sich schließlich mit einem breiten Lachen im Gesicht vor ihrem Publikum verneigte. Tatsächlich, das war Mireille Mathieu, und vermutlich gab es unter den Zuhörern nicht wenige, die den gesamten Nachmittag in dieser Illusion verbrachten. Der Spatz von Avignon war den weiten Weg von Frankreich zu ihnen geflogen und gehörte zwei Stunden lang nur ihnen, ihnen und ihren Erinnerungen, warum sollten sie daran zweifeln. Maria, so schien es, wusste darum und sang einen Mireille-Mathieu-Hit nach dem anderen, und zu meiner Überraschung erkannte ich nahezu jedes Lied. Ich war schon dabei, erste Zeilen leise mitzusingen, als ich auf einmal am Nachbartisch einen Mann entdeckte, der mit seinem Portemonnaie in der Hand nach der Bedienung winkte. Seine Bewegungen glichen exakt denen des Mannes im Lokal vom Vorabend, und je länger ich ihn ansah, umso sicherer war ich mir, dass er ihm auch sonst glich, nein, dass er ein und dieselbe Person war. Er winkte die Bedienung heran, um ihr schon im nächsten Moment ins Ohr zu flüstern, wen er da am Nachbartisch entdeckt hatte, aber als die Bedienung schließlich neben ihm stand, flüsterte er nicht, sondern schrie ihr durch die Musik entgegen, dass er Käsekuchen wolle, richtigen Käsekuchen, einen Käsekuchen wie in Frankreich, und als die Bedienung ihm stattdessen ein Stück Erdbeertorte reichte, lächelte er selig und begann sofort, sie in großen Stücken in sich hineinzuschaufeln.
Erleichtert ließ ich mich zurück in meinen Stuhl sinken, später stand ich auf und ging in den Park. Ich schaltete mein Handy an, auf dem keine Anrufe Sonjas verzeichnet waren, und wählte die Nummer des Pflegeheims.
«Gut, dass Sie sich melden», sagte eine mir fremde Stimme am anderen Ende der Leitung, «Dr. Janson wollte Sie sprechen.»
Ich spürte, wie alles Blut in mir absackte, und suchte Halt an einem nahen Baum.
«Sie meinen», sagte ich, aber die Stimme unterbrach mich und sagte: «Nein, ich meine nichts», dann hörte ich die Verbindungsmelodie, ein grausam verhunztes Bach-Menuett aus näselnden Computertönen, und schließlich die Stimme Dr. Jansons, die warm und freundlich klang wie immer.
«Ihr Vater», sagte er, «er weint seit vierundzwanzig Stunden. Das Einzige, was wir verstehen können, ist so etwas Ähnliches wie Schorri, sagt ihnen das was?»
Ich nickte, als stünde Dr. Janson vor mir und schaute kurz hinauf zu den Fenstern des Speisesaals, wo ich ein Stück von Marias Perücke auf und ab wippen sah und eine der Bedienungen, die unbewegt mit ihrem Rücken an der Scheibe klebte. Doch schon im nächsten Moment drückte sie sich vom Fenster ab und verschwand im Saal, der Pschorri, dachte ich,
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