Was uns nicht gehört - Roman
war. Sie versuchte, die Tür zu öffnen, aber die Tür war verschlossen, und auch sonst fand sich niemand auf der Anlage, der irgendeine Erklärung zu dem Schild hätte abgeben können. Über dem Sportlerheim und den angrenzenden Fußballplätzen lag ein klammer Oktobernebel, und ich bereute gerade, meine neue Mütze im Wagen gelassen zu haben, als Maria aus ihrer vorübergehenden Lähmung erwachte und begann, die Tür mit Tritten zu traktieren. Ich hatte mich einige Meter vom Sportlerheim wegbewegt, um mir einen besseren Überblick über die Anlage zu verschaffen, und dachte gerade, dass Maria ein paar Tritte gegen die Tür schon zustanden, als ich sah, wie sie in ihrer Treterei innehielt, sich kurz umschaute und schließlich einen Stein vom Boden aufhob.
«Was machst du?», schrie ich, aber Maria hatte bereits ausgeholt, und schon im nächsten Moment barst die Scheibe der Tür.
«Holen, was mir zusteht», rief sie zurück und griff nach innen, Sekunden später war sie im Sportlerheim verschwunden.
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, blickte ich auf die geöffnete Tür und die Scherben auf den Fliesen des Eingangs und erst, als Maria nach fünf Minuten noch immer nicht wieder aufgetaucht war, folgte ich ihr. Der Flur war lang und nur kärglich beleuchtet von zwei Oberlichtern, an den Wänden Fotos glücklicher Männer, die Pokale in die Luft stemmten. Ich fand Maria im Gastraum inmitten der Überreste eines Festgelages, das dort am Vorabend stattgefunden haben musste, und das, wie es schien, keiner für ein paar französische Schlager hatte aufräumen wollen. Sie saß auf einem Stuhl und hielt mir in der einen Hand eine angebrochene Flasche Remy Martin und in der anderen eine Hähnchenkeule entgegen, die sie bereits zur Hälfte abgeknabbert hatte.
«Mehr», sagte sie, «ist hier nicht zu holen.»
Ich blieb einen Moment stehen und sah Maria an, dann ging ich auf sie zu und setzte mich neben sie. Mit ihrer angeknabberten Hähnchenkeule deutete sie zum Buffet, das sich rechtwinklig zum Tresen des Gastraums die gesamte Stirnwand entlang zog.
«Hol dir was», sagte Maria, «das spart uns wenigstens das Mittagessen.»
«Verdammt, wir müssen hier weg», erwiderte ich, aber Maria schien nicht die geringste Eile zu haben.
Akribisch nagte sie die letzten Reste von ihrer Keule ab und warf sie schließlich in ein kleines Eimerchen für Tischabfälle, aus dem bereits andere Knochenreste ragten. Direkt daneben sah ich Marias Handschuhe liegen, und vergeblich versuchte ich mich zu erinnern, ob sie sie beim Werfen des Steins noch getragen hatte oder nicht. Maria lächelte mich an. Sorgfältig wischte sie sich mit einer noch unbenutzten Serviette ihren Mund und ihre Hände, und genauso sorgfältig faltete sie die Serviette anschließend wieder zusammen und legte sie zurück auf den Tisch.
«Komm schon», sagte sie, «kein Mensch glaubt, dass eine Sängerin in das Haus einbricht, in dem sie am Abend singen soll. Wenn jemand kommt, dann war die Tür einfach schon vorher eingeworfen. Und für zwei alte Hähnchenkeulen wird man uns kaum vor Gericht schleppen.»
Maria nahm ihre Handschuhe vom Tisch und deutete damit noch einmal zum Buffet. «Letzte Chance, du wirst es bereuen.» Sie lachte, und als sie im nächsten Moment aufstand und mit der Flasche Remy Martin in Richtung Ausgang ging, folgte ich ihr, ohne dem Essen einen weiteren Blick zu schenken.
Am Nachmittag fuhren wir zurück an den Rhein. Obwohl Maria ihren ersten Auftritt in Bingen erst am nächsten Tag hatte, wollte sie sichergehen, dass ihr keine weitere Überraschung ins Haus stand. Wieder war es ein Altersheim, das Maria gebucht hatte, aber anders als in Remagen trat sie dort gleich an zwei Tagen hintereinander auf.
«Einmal für die Rüstigen und einmal für die Dementen», sagte sie, als wir auf den Parkplatz des Altersheims einbogen, ein Scherz, der mich so unvermittelt wie nackt traf.
Ich schaute aus dem Seitenfenster, um Maria nichts von meiner plötzlichen Aufgewühltheit zu zeigen, aber Maria hatte meine Unruhe längst bemerkt. Sie steuerte ihren Wagen in die erstbeste Parklücke, die sich ihr bot, und stellte den Motor ab.
«Was ist?», fragte sie. Sie nahm ihre rechte Hand vom Lenkrad und legte sie auf mein Knie.
«Ach nichts», sagte ich, «eine Erinnerung», und als Maria ihre Hand wenig später wieder wegziehen wollte, hielt ich sie fest.
«Noch zehn Sekunden», sagte ich, und als die zehn Sekunden vorüber waren, hielt ich sie weiter
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