Was vom Tode übrig bleibt
können?
Sauerstoffatome sind das Bindungswilligste, was es auf der Erde gibt. Sie können praktisch überall andocken und tun das auch mit unglaublicher Beharrlichkeit. Notfalls binden sich diese Atome dann aneinander, aber viel lieber greifen sie sich andere Atome und Moleküle. Sobald wir also die Chlorbleichlauge ausbringen, wird nicht nur der typische stechende Chlorgeruch freigesetzt, sondern auch riesige Mengen unglaublich aufdringlicher Sauerstoffatome, die sogar die zähen Geruchsmoleküle knacken, Teile davon abspalten und sich an diese hängen können. Das Molekül hat sich somit aufgelöst und riecht nicht mehr. Man nennt das auch » kalte Verbrennung«.
Der Nachteil ist: Das kann man nicht mit einer Maschine machen, die man ins Zimmer schiebt und für sich arbeiten lässt. Nein, man muss die aggressiven Sauerstoffatome zu den Geruchsmolekülen bringen, bevor sie sich mit irgendetwas anderem verbinden. Das heißt, man muss die Chlorbleichlauge direkt auf die belastete Wand auftragen und die Wand damit abbürsten. Das ist eine so anstrengende, schweißtreibende Arbeit, dass man sich eigentlich wundert, dass sie noch nicht in Fitnessstudios als Workout angeboten wird. Und sie erfordert eine gewisse Sachkenntnis, weil Chlorbleichlauge kein Multivitaminsaft ist.
Das merkt man schon daran, dass die Wand hinterher aussieht wie neu. Wir haben hochgradig vergilbte Wohnungen von Kettenrauchern gereinigt, an deren Wänden helle Rechtecke überall dort waren, wo Bilder gehangen haben. Wenn wir mit unserer Arbeit fertig waren, waren diese Wände strahlend weiß, als hätten wir sie komplett neu gestrichen. Ich habe mir schon mal überlegt, beim Renovieren einer Wohnung Chlorbleichlauge als Alternative zum Neustreichen zu empfehlen. Aber das sollte man natürlich nicht machen, wegen der stechenden Chlordämpfe. Es gilt hier übrigens in jedem Fall, die richtige Mischung zu finden, mit der einerseits der Geruch verschwindet, andererseits die Wand aber noch stehen bleibt. Und der Mitarbeiter, der bürstet, möglichst auch.
Eine Alternative zur Chlorbleichlauge ist Wasserstoffperoxid, das Mittel, mit dem sich Blondinen die Haare zurechtbleichen– eben auf platin- oder wasserstoffblond. Die Funktion ist im Wesentlichen dieselbe, auch Wasserstoffperoxid bildet atomaren Sauerstoff und reagiert unglaublich leicht mit allen möglichen Stoffen und zwingt sie dabei zur » kalten Verbrennung«, zur Oxidation. Dabei klammert sich der atomare Sauerstoff an Teile des Geruchsmoleküls, damit zerfällt das Molekül– wie gehabt. Wasserstoffperoxid ist fast völlig geruchsneutral, aber wesentlich teurer als Chlorbleichlauge. Wenn ich also genug Zeit und Fenster zum Lüften habe, ziehe ich Chlorbleichlauge vor.
Manchmal lässt sich nicht alles entfernen. Man kann den Estrich nicht so lange rausklopfen, bis man unten in der Nachbarwohnung wieder herauskommt. Man kann tragende Wände nicht rausschlagen. Dann müsste man ja das Gebäude neu bauen. Wegen einer Wohnung reißt aber keiner gleich das ganze Haus ab. In diesem Fall hilft nur noch, den nicht mehr entfernbaren Geruchsherd hermetisch abzudichten, indem man die nicht mehr reduzierbare Fläche mit Zwei-Komponenten-Harz versiegelt. Wir haben diese Lösung noch nie verwendet, denn sie hat auch ihre Tücken: Am Rande der abgedichteten Fläche kann immer noch Geruch aufsteigen, so, wie Zigarettenrauch auch um Hindernisse herumzieht. Und je nachdem, wie stark die Reste riechen, wie groß die verbliebene belastete Fläche ist, desto sicherer wird der Geruch das auch tun– nur kann man dann nicht mehr an den Geruchsherd heran.
Ich bin zurzeit noch Anhänger der wiederholten Behandlung mit Chlorbleichlauge, notfalls in erhöhter Konzentration– so lange jedenfalls, bis ich etwas Besseres gefunden habe.
Eine Frage bleibt natürlich noch übrig: Nachdem es so verschieden flüchtige Gerüche gibt wie den von Kaffee, den von Frittierfett und den von Leichen, warum ist ausgerechnet der Leichengeruch so lang haltbar? Darauf gibt’s eigentlich nur zwei Antworten. Die kurze lautet: Pech. Die eines Evolutionsexperten lautet wahrscheinlich anders: Hier geht’s um Tod und Vergiftung, weshalb sich der menschliche Körper einen Mechanismus gesucht hat, um derartige Dinge frühzeitig und lange anhaltend zu erkennen. Falls es mit dem Geruch nicht funktioniert hätte, hätte er einen anderen Weg gefunden, von mir aus über die Ohren. Und meine Kollegen und ich würden heute stattdessen
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