Was vom Tode übrig bleibt
ohne einen kurzen Seitenblick zu riskieren. Da ist etwas passiert, da geht etwas vor, was man sonst nicht sieht, wahrscheinlich eine Tragödie, es ist einfach menschlich, wenigstens kurz einen Blick darauf werfen zu wollen. Und schon in dieser Situation hat man einen weiteren Gefühlskonflikt, weil die Alternative, völlig ungerührt vorbeizufahren, eben nur anfangs untadeliger wirkt, denn man könnte dies auch » gleichgültig« nennen oder » gefühlskalt«. Man kann sich in einer solchen Lage nicht richtig verhalten. Für uns Einsatzhelfer ist dieser Konflikt noch viel stärker. Wir fahren nicht vorbei, wir fahren genau dorthin, wir werden in der ersten Reihe stehen, und wir werden hingucken müssen, damit wir helfen können– aber wir können, wenn wir ehrlich sind, nicht leugnen, dass wir unsere Augen bei unserer Arbeit genauso sensationsgierig aufmachen wie die meisten Schaulustigen. Bei der Tatortreinigung ist der emotionale Konflikt sogar noch ein wenig schwieriger: Wenn wir eintreffen, gibt es nicht mehr viel zu helfen. Aber selbstverständlich sind wir neugierig, sogar doppelt und dreifach, wenn wir zu einem Einsatzort gerufen werden, über den vorher in der Zeitung berichtet wurde.
Ein Amoklauf hatte in einer Stadt nördlich von München stattgefunden, in der Nacht vom Ostermontag auf den Dienstag. Die Wohnung sollte geräumt werden, die überlebenden Opfer sollten nicht wieder den Tatort des Blutbades betreten müssen, wir sollten die Wohnung reinigen, möglichst viel erhalten und alles, was man mitnehmen konnte, gleich in Umzugskartons verpacken. Ich hatte von dem Fall gehört, er war auf den Titelseiten der Münchner Boulevardblätter gewesen. Aber richtig verstanden, was vorgefallen ist, habe ich erst, als wir dort eingetroffen sind.
Es war eine kleine Mietwohnung im Erdgeschoss, in einem Haus aus den späten 1960 er oder den frühen 1970 er Jahren. Wir erschienen zwei Tage nach der Bluttat, und etwas Derartiges hatte ich noch nie gesehen. Wir öffneten die Tür, sahen einen schmalen Flur, von dem links und rechts Türen weggingen. Der Flur war mit Laminat ausgelegt, und eine breite Blutspur zog sich von der Eingangstür bis zur Tür am anderen Ende des Flurs, die ins Schlafzimmer führte. Wir betraten vorsichtig die Wohnung, die letzte Tür auf der rechten Seite ging in die Küche, dort vor dem Kühlschrank lag eine schwarze Blutlache. Gegenüber, in der Wand und in der letzten Zimmertür auf der linken Flurseite, waren Einschusslöcher. Die Spurensicherung hatte schwarz-weiße Maßbänder danebengeklebt, um auf den Fotos die Größe einschätzen zu können. Im Schlafzimmer war ein Doppelbett, die eine Hälfte der Matratze war blutgetränkt. Auf dem Teppichboden waren blutige Fußabdrücke. Wir drehten uns um und blickten durch die Schlafzimmertür wieder durch den Flur zum Eingang. Man konnte den gesamten Ablauf der Tat erkennen.
Eine Frau hatte hier gewohnt, mit ihren zwei kleinen Söhnen. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem Mann getrennt, einem Kosovo-Albaner. Er hatte bereits ein polizeiliches Kontaktverbot erhalten, er durfte seine Familie nicht mehr sehen, zu ihrem Schutz. Das Türschloss war schon ausgewechselt worden. Aber irgendwie musste er sich einen Schlüssel organisiert haben. Vermutlich hatte er vor dem Haus gewartet, bis in der Wohnung die Lichter ausgegangen waren. Dann hatte er sich mit einer Automatikpistole bewaffnet in die Wohnung geschlichen. Er war sofort ins Schlafzimmer gegangen. Er stand an der Schwelle, sah die Frau dort liegen, zwischen ihren beiden Kindern. Der Dreijährige links, der Fünfjährige rechts. Dann hob er die Pistole und schoss auf den Fünfjährigen.
Der Bub war sofort tot. Ein Drei-Organ-Schuss, sagen die Fachleute, Leber, Herz, Lunge mit einem Schuss. Die Mutter wachte auf, schnellte hoch und stellte sich dem Mann schreiend in den Weg, um ihr Kind zu schützen. Er senkte die Pistole und schoss, schnell, ohne zu zögern. Er schoss ihr eine Kugel in den Arm und dann fünf Kugeln in den Bauch, bis sie zusammenbrach. Ich konnte es förmlich vor mir sehen, ihre Blutlache lag vor mir auf dem rotbraunen billigen Teppichboden. Gut möglich, dass er noch öfter geschossen und nicht immer getroffen hatte, vielleicht stammten die Einschusslöcher in Tür und Wand auch von Durchschüssen. Dann hob er die Pistole wieder, zielte auf den Kopf des Dreijährigen und drückte ab.
Der Junge hatte unglaubliches Glück. Die Kugel verfehlte ihn, aber er verfiel sofort in
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