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Was vom Tode übrig bleibt

Was vom Tode übrig bleibt

Titel: Was vom Tode übrig bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Anders
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Verwundeten und Verbrannten und Verunglückten an, bei denen wir nicht selbst dabei waren. Dann erzählen wir den Kollegen die Geschichten von unseren Toten und Verunglückten, die sie verpasst haben, während sie bei ihren Toten und Verunglückten waren. Und dabei sind wir alle ziemlich gelassen und ziemlich cool, obwohl jeder auf eine furchtbare Unglücksgeschichte eines Kollegen eine noch furchtbarere Unglücksgeschichte erwidern kann, und wenn dann keine Steigerung mehr möglich ist, erzählt ein anderer von einem nicht ganz so furchtbaren Einsatz, der aber dafür viel trauriger war, und sofort fällt dem Nächsten ein noch erschütternderes Schicksal ein, und wenn das keine verschrobene Welt ist, dann kenne ich keine. Die Frage ist: Was passiert mit Menschen, die dauernd in so einer verschrobenen Welt leben? Bei denen es zum ganz normalen Alltag gehört, einem von einem Lastwagen mehrfach überrollten Opfer mit einer mehr oder weniger handelsüblichen Bohrmaschine Nadeln in den Schienbeinkopf zu bohren, weil die Venen für Infusionen zu zermatscht sind und man die Infusionen daher direkt in die Knochen gibt?
    Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Menschen, die sich schon vor einer Katastrophe mit möglichen Rettungswegen oder Hilfsmöglichkeiten befasst haben, die besten Überlebenschancen haben, weil sie am schnellsten reagieren, und wir haben praktisch jede Katastrophe schon gesehen, jede Rettung schon gemacht, das verleiht uns ein gewisses Selbstbewusstsein, eine gewisse Ruhe, und so treten wir auch auf. Wir fühlen uns wie echte Kerle, die echte Heldentaten vollbringen. Wir wissen für alles eine Lösung, wir können uns keine Situation vorstellen, in der wir uns nicht zu helfen wüssten, irgendetwas wird uns immer einfallen. Aber wir wissen auch: Der Mensch ist nicht dafür gedacht, dauernd Tote und Verletzte zu sehen, dauernd in Blut und Wunden herumzufuhrwerken. Ich glaube, es gibt fürs Gehirn irgendwo eine Grenze, bei jedem von uns, und da ist dann Schluss. So wie bei einem Fass: Wenn’s voll ist, ist’s voll. Und manche Kollegen wissen genau: Bei ihnen ist das Fass kurz vorm Überlaufen.
    Das kann schnell gehen, weil ja hinter den allermeisten Einsätzen auch Schicksale stehen. Ich erinnere mich an eine Familie mit einem Jungen, der eine spastische Behinderung hatte. Die Familie hatte ein kompliziertes Wespennest, um es zu entfernen, mussten wir mehrfach hin, und der Junge hat sich jedes Mal unbeschreiblich gefreut, wenn er uns in unseren weißen Anzügen sah. Wir haben ihn begrüßt, und er hatte einen Riesenspaß, beim Händeschütteln zuzudrücken wie ein Schmied. Das erschüttert einen natürlich nicht bis ins Mark, aber es lässt einen auch nicht kalt und man merkt sich sogar so kleine Randgeschichten, die schönen, die traurigen, und sie alle tragen dazu bei, das Fass ein bisschen mehr zu füllen.
    Ich kenne einige Kollegen, die ganz klar sagen, dass sie bestimmte Einsätze im Rettungsdienst nicht mehr fahren möchten und können. Sie würden sich an ihrem Limit befinden, bekämen die Bilder nicht mehr aus dem Kopf und könnten nachts nicht mehr schlafen. Bevor sie für ihre Arbeit völlig ausfallen, lassen sie’s halt mit dem Rettungsdienst. Manchmal hilft auch das nicht. Nach dem ICE-Unglück bei Eschede 1998 hat man eine Langzeituntersuchung mit den Helfern durchgeführt, die dort bei der Bergung der 101 Toten und Verletzten gearbeitet haben. Man hat festgestellt, dass sich vier oder fünf von ihnen umgebracht haben. Und es ist wohl auch kein Zufall, dass bei der Münchener Feuerwehr ebenfalls 1998 das SkB-Team gegründet wurde, das Team für » Stressbearbeitung und kollegiale Betreuung«. Nach besonders belastenden Einsätzen werden seitdem sämtliche Beteiligten zu einer Supervisionssitzung zusammengeholt, geschulte Psychologen leiten das Treffen und filtern heraus, wer möglicherweise unter den Folgen mehr leidet, als er ahnt. Das merkt man ja selbst manchmal gar nicht: Eine gute Freundin von mir, die bei einer benachbarten freiwilligen Feuerwehr mitgearbeitet hat, hat das erst bei einer Kur gemerkt, als die Ärzte sie dort zur Psychotherapie schickten. Sie hat nach einem schweren Unfall ihres Sohnes und mehreren ähnlichen schweren Unglücken, bei denen sie geholfen hat, nur noch zwei Stunden pro Nacht geschlafen, aber sich nichts dabei gedacht. Oder sie hatte noch die alte Feuerwehrdenke im Kopf, die ich auch kenne. Als ich 1987 anfing, galt man als Weichei, wenn man mit dem

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