Was vom Tode übrig bleibt
drauf und dran waren, sich umzubringen, in dem Wissen, dass jedes Mal der Moment eintreten wird, in dem ich den Todeskandidaten verraten werde, in dem nicht alles gut wird und er wieder nach Hause geht, sondern in dem ich ihn der Polizei ausliefere, den Ärzten. Ich habe Wohnungen geöffnet, in denen Tote am Dachbalken hingen, erhängt aus Liebeskummer, und es gab Tage, da habe ich zu ihnen hochgesehen und gesagt: » Junge, ich weiß genau, was du meinst.« Dennoch haben meine Kollegen und ich nicht genug gesehen, um nicht jedes Mal neugierig auf eine neue Variante des menschlichen Leids zu sein. Das ist uns selbst nicht immer sympathisch. Aber nur deshalb haben wir genug gesehen, um auch in solchen Momenten unsere Arbeit zuverlässig erledigen zu können.
Klaus und ich desinfizierten die Wohnung wie üblich mit Kohrsolin. Dann begannen wir auszusortieren. Die Matratze mit dem blutigen Umriss des Fünfjährigen wurde kleingeschnitten und in Folie verpackt, damit wir sie problemlos entsorgen konnten. Wir entfernten das komplette Laminat im Flur und den Teppichboden im Schlafzimmer. Sie hatten darunter Styropor verlegt, zur Trittschalldämmung, und das Styropor war an zwei Stellen blutgetränkt. Wir schnitten sie heraus und warfen sie weg. Dann machten wir uns an das Linoleum in der Küche, das nicht mehr zu retten war. Wir hätten das Blut vielleicht wegwischen können, aber es hatte schon zu lange eingewirkt, die Umrisse des blutigen Flecks waren fest eingedrungen. Mit einem Mehrzweckschneider frästen wir das Linoleum streifenweise ab– in den 1970 er Jahren hatte man offenbar nicht nur stellenweise punktgeklebt, sondern mit großer Freude den furchtbarsten Klebstoff großflächig aufgetragen. Dieses blutige Linoleum gehört mit zum Zähesten, was ich je aus einer Wohnung entfernt habe.
Klaus zerlegte inzwischen das Bett bis auf den Lattenrost. Die Mutter und ihr überlebender Sohn sollten umgesiedelt werden, Kirche und Polizei würden ihnen eine neue Identität vermitteln und sie mit dem Notwendigsten versorgen. Das bedeutete, dass wir Kosten sparen mussten, wir mussten mehr reinigen als sonst, denn alles, was wir wegwerfen würden, hätten kirchliche und staatliche Stellen neu kaufen müssen. Deshalb putzten wir das Bett so gründlich, wie wir es sonst nur bei einer Bettwanzenbekämpfung tun. Wir packten die Habseligkeiten der kleinen Familie zusammen, in Umzugskartons, sodass die Umzugsfirma alles transportieren konnte. Tatortreinigung ist manchmal mehr als schlichte Putzarbeit. Aber es gab auch nicht viel zu verpacken: Der Frau war nicht viel mehr geblieben als ihr Sohn, und auch den gönnten ihr manche nicht. Kurze Zeit später, habe ich erfahren, soll die Familie des Amokläufers versucht haben, das Sorgerecht für den kleinen Jungen zu bekommen. Die Behörden haben ihn sicherheitshalber sofort an eine Pflegefamilie vermittelt, wo er bis zur Entlassung der Mutter aus der Klinik blieb. Wo Mutter und Sohn heute wohnen, weiß ich nicht, ich habe den Fall nicht weiterverfolgt, aber ich weiß, dass sie heute so gesund und wohlauf sind, wie es unter den Umständen möglich ist.
Es fällt mir noch immer schwer, diesen Einsatz ähnlich abzuhaken, wie es mir mit vielen anderen gelingt. Vielleicht habe ich vorhin ein wenig geschwindelt, als ich behauptet habe, mich würden all die Erlebnisse immer härter, zuverlässiger, reaktionsschneller und bei aller Neugier auch geschulter und erfahrener machen. Aber je älter ich werde, desto mehr spüre ich auch, wie mich diese Erlebnisse beeinflussen. Ich werde ängstlicher. Und ich gehe nicht mehr wie früher bei Wohnungsöffnungen einfach voran. Ich habe gesehen, wie Polizisten angeschossen wurden, weil bei einer Wohnungsöffnung der Mieter zwar trotz aller Hämmerei gegen die Tür nicht reagierte, wohl aber bereit war, auf denjenigen zu ballern, der seine Wohnung betritt. Und Fälle wie dieser Amokläufer sind die Ursache, dass ich auf Zehenspitzen in Wohnungen gehe, stets mit der Sorge im Hinterkopf, dass ich nicht allein bin und einer der ganz Irren aus den unerfindlichsten Gründen mit einem Messer hinter der Tür steht.
18. Alles Fassade
In jüngster Zeit scheint der Beruf des Tatortreinigers immer mehr im Interesse der Öffentlichkeit zu stehen. Ich habe das ja selbst feststellen können, und ohne dieses Interesse wäre es wohl nie zu diesem Buch gekommen. Die Neugier ist ganz verständlich: Den Beruf gibt es in Deutschland noch nicht sehr lang und man erfährt
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