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Was vom Tode übrig bleibt

Was vom Tode übrig bleibt

Titel: Was vom Tode übrig bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Anders
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eine so totenähnliche Schockstarre, dass der Vater überzeugt war, er hätte ihn genauso rasch getötet wie seinen älteren Bruder. Nun setzte der Vater die Pistole an seinen Kopf und schoss zum letzten Mal. Er kippte hintenüber, in die Küche, stürzte mit dem Kopf neben den Kühlschrank mit den aufgeklebten Comicfiguren. Dann war Stille. Wie lange, ist schwer zu sagen.
    Innen am Türrahmen des Schlafzimmers, auf der linken Seite, etwa in Wadenhöhe, befand sich ein roter Handabdruck. Die Mutter lebte noch. Sie hatte vermutlich nicht gleich versucht, sich aufzurichten, sie versuchte es wohl erst, nachdem sie gemerkt hatte, dass ihr Mann nicht mehr schoss. Sie packte den Türrahmen und versuchte, Hilfe zu holen. Es muss quälend langsam gegangen sein, sie konnte sich ja nicht mehr aufrichten, die Spuren im Flur waren ab hier fast ausschließlich in Bodennähe, keine, die sich höher befand als eine Türklinke. Sie umklammerte die Türstöcke, sie stemmte sich vorwärts, trotz der fünf Kugeln im Bauch, trotz des lädierten Arms, an den Beinen ihres Mann vorbei, der tot oder sterbend mit dem Blut aus seinem Kopf die Küche flutete. Sie kam nur zentimeterweise vorwärts, man konnte das an der körperbreiten Blutspur sehen, die sie über das gesamte Laminat verteilte wie Sean Connery in » Die Unbestechlichen«. Man sah das auch ohne Polizeiausbildung, es war ja keine gleichmäßige Spur, sie war immer wieder mehr und weniger intensiv, je nachdem, wie lange Pausen sie einlegen musste, wie lange sie an einer Stelle Blut verlor, während sie sich mit dem Kopf auf dem Boden voranzog, vorbei an den kleinen, ordentlich aufgestellten Stiefeln ihrer Kinder, auf dem Weg zu ihrem einzigen Ziel: dem schmalen hölzernen Schuhschrank im Flur, auf dem das Telefon stand.
    Dass sie den Schrank erreicht hatte, konnte man an dessen blutverschmierter Ecke sehen, daran hatte sie sich hochgezogen und das Telefon heruntergeholt. Sie wählte die Notrufnummer und alarmierte den Rettungsdienst und die Polizei. Und dann kroch sie weiter. Die Blutspur zog sich noch bis zur Eingangstür. Dort hatte sie sich am Türstock hochgestemmt und die Wohnungstür geöffnet, um die Helfer schneller hereinzulassen. Man konnte es an der blutverschmierten Klinke erkennen. Dann war sie zusammengebrochen und hatte auf die Helfer gewartet. Sie hatten die Mutter und den überlebenden Jungen abtransportiert und sich noch um seinen toten Bruder gekümmert, das wiederum sah man an den Fußspuren, die von Helfern stammten, die durch den Flur gerannt waren und deren blutige Abdrücke im Schlafzimmer auf dem Teppichboden zu dem Fundort des kleinen Toten führten. Wir sahen alles vor uns, wir sahen jede Spur von jeder Zwischenstation der Tragödie. Wir waren sprachlos, es war absolut erschütternd, aber zugleich vollkommen bizarr, als stünden wir mitten in einem » Tatort«-Krimi, als hätten wir nur weiter zurückgehen müssen, um rückwärts aus dem Fernsehbild herauszutreten, aber das Fernsehbild hörte und hörte nicht auf, wir waren mittendrin, es war kein Fernsehbild, es war die Wirklichkeit, und die Frau mit den fünf Kugeln im Bauch lag zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus und kämpfte in der Intensivstation um ihr Leben, der Fünfjährige bekam keinen Szenenapplaus und der Vater hatte seine Rolle nicht zum Fürchten gut gespielt. Das alles war wirklich geschehen, und wie die perfekte Schlusspointe lag oben auf dem Schuhschrank der alte Schließzylinder der Eingangstür, den man zur Sicherheit der Familie noch eigens ausgewechselt hatte.
    Wir schlüpften in unsere Overalls, blickten kopfschüttelnd immer wieder auf die Spuren dieser unfassbaren Brutalität. Der Anblick ging uns durch und durch, und trotzdem, wenn ich ehrlich bin, war auch in diesem Moment ein gewisser Nervenkitzel dabei.
    Man steht in einem solchen Umfeld nicht gleichmütig wie in einer Imbissbude. Und viele panikartige Reaktionen scheiden allein schon deshalb aus, weil wir viel Erfahrung mit Katastrophen, Tragödien, Dramen haben. Wir haben zu viel Blut gesehen, um entsetzt davonzulaufen. Wir haben zu viele Verletzungen gesehen, um allein von der Tatsache schockiert zu sein, dass menschliche Körper immer wieder auf eine neue Art deformiert werden können. Wir haben zu viele Menschen gesehen, die unmögliche Dinge überlebt haben, um hoffnungslos zu sein. Wir haben zu viele Menschen an den dümmsten Dingen sterben sehen, um zu überrascht zu sein. Ich habe mich mit Menschen verbrüdert, die

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