Was weiß der Richter von der Liebe
Sein Berufsleben lang hat er den Menschen geholfen, zunächst als Volkspolizist, dann als bundesdeutscher Beamter und später dann als Sanitäter an diesem Ort, dem Abschiebegewahrsam von Berlin-Grünau. Schön ist es nicht da, sicher. Aber man muss sich halt einzurichten wissen. Auf der Krankenstation ist zwar das Wartezimmer mit Gittern versehen, aber ansonsten ist das »wie ’ne janz normale Arztpraxis«, wird man vor Gericht zu Protokoll geben, »nur dass die heutzutage besser ausgestattet sind«. Dass zum Beispiel das EKG seinen Geist aufgab in jener Nacht – unglücklich ist das schon. Doch darf man an Umständen nie verzweifeln: »Is’ Technik«, wird Reinhard Wroblewski aussagen, »Kann man nicht viel machen. Muss man halt anders machen.« So sieht’s aus, und keiner muss ja länger an diesem Ort sein als ein paar Monate, das liegt in der Natur der Sache. Lange hier aushalten muss man es nur selber, seit zehn Jahren schon schiebt man hier Dienst, immer hat man den Kranken – und den sich krank Stellenden – nach bestem Wissen und Gewissen geholfen.
Im Abschiebegewahrsam in Berlin-Grünau hat man besser ein dickes Fell. Wenn man über alles nachdenken würde, was dort schon passiert ist, da käme man ja richtig ins Grübeln, und fürs Grübeln wird man nicht bezahlt. Ein Frauengefängnis ist das einmalgewesen, zu DDR-Zeiten, aber geschenkt, das ist lange her. Dann wurde es umgebaut, in den Neunzigerjahren, und schon in der Umbauphase ging der Ärger los: Linke Bombenleger wollten das Gebäude sprengen und hätten es vielleicht auch gesprengt, wenn nicht die Polizei über ihre Wagen gestolpert wäre, mit den Propangasflaschen drin. Seither müssen die Linken vor der Tür bleiben, kommen aber dennoch dauernd aufmarschiert, bringen Plakate mit, rufen so Sachen, ketten sich fest.
Aber das ist gar nichts gegen das, was drinnen immer los ist. Ganze Familien klappen regelmäßig auseinander, weil der Vater nach Hause abgeschoben wird, und die sonstigen Insassen wissen vor Ödnis kaum, wohin mit sich: Traditionssport ist es, Teebeutel an die Zellendecken zu werfen, um zu sehen, wie viele oben kleben bleiben, und das ist nur der Normalzustand. Wenn es aber dicke Luft gibt im Abschiebegewahrsam Grünau hinter seinen hohen Mauern, dann geht es richtig bunt zur Sache: Epidemische Hungerstreiks befallen dann die Gebäude, ganz zu schweigen von den Selbstmordversuchen; beliebt ist das Erhängen mit den feuerfesten Bettlaken; und wenn es dazu nicht reicht, wird gerne auch simuliert, Geisteskrankheiten zum Beispiel, »aus Langeweile«, wie ein Kollege schon einmal den Medien anvertraut hat.
Man selber tut nur seinen Job. Man hat seinen Bauch schon durch manche Stürme geschoben, geht nun endlich auf die verdiente Pension zu, und wenn jemand wirklich Hilfe braucht, dann soll er die auch kriegen. Es ist ein heißer Tag gewesen, dieser 28. Mai 2005, 35 Grad Außentemperatur, wie gut, dass man in keiner der Zellen leben muss. Schön aber auch, dass man keinFußballer ist: Die nämlich laufen zurzeit im Olympiastadion hin und her, bei der Hitze, am Ende einer langen Saison. Schalke 04 trifft auf Bayern München, sie ringen um den DFB-Pokal, da muss man gar kein Gefängnisbeamter sein, um sich mit einem solchen Spiel zu befassen; die Gefängnisbeamten aber sind natürlich erst recht interessiert an dem Kick. Um 20.45 Uhr ist Anstoß, es ist Besuchszeit auf den Stationen, da können die Verwahrten einander besuchen; sie trinken Tee, spielen Tischtennis, sie beten zusammen. Die Bayern aber, sie legen ein flottes Tempo an den Tag: Makaay setzt eine Volleyabnahme knapp am Schalker Tor vorbei; Vermant hält einen Ballack-Schuss mit der Hand im Strafraum auf – Riesenaufregung, natürlich. Pizarro schießt ein Tor, das angeblich Abseits war. Aber was ist nur mit den Gefangenen los?
Rabatz auf Station 4: Die Kollegen wissen davon zu berichten, nachdem das Spiel vorbei ist. Da wurde wieder herumgeschrien, wurde gegen die Türen geschlagen, ein Mordsaufstand gemacht, der sich auch mit größter Gelassenheit nicht beilegen ließ: Einer der Ihren, bestehen die Insassen, liege seit einer Stunde im Sterben! Bemüht man sich also einmal hin. Ein junger Mensch – Mitte, Ende zwanzig vielleicht – liegt flach auf seinem Bette, setzt sich auf, wirkt matt. Vorhin hat er noch Tischtennis gespielt mit den Vietnamesen. Jetzt meint er also zu sterben: Brustschmerzen. Atembeschwerden. Man ist ja einiges gewohnt. Aber diese Luft hier drinnen,
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