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Was weiß der Richter von der Liebe

Was weiß der Richter von der Liebe

Titel: Was weiß der Richter von der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Ungerer
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die ist wirklich schlimm. Übel stickig war der Tag, hier kann man gerade einmal die Oberlichter kippen, und alle Anwesenden reden auf einen ein: Was willst du! Der ist krank!Du musst etwas machen! Also holt man einen Rollstuhl und nimmt den Schwächelnden mit runter in die Krankenstation, ein Palästinenser kommt mit, der ein wenig dolmetschen kann.
    Unten stellt sich heraus: Der junge Algerier hat den ganzen Tag über nur einen Liter getrunken. Die Leute sind so unvernünftig. In der Krankenstation aber lässt es sich unaufgeregter verhandeln. Am Tag zuvor, erfährt man jetzt, hat er schon mal so ähnliche Schmerzen gehabt, also klopft man ihn ab, die Probleme treten beim Brustwirbel auf und strahlen in die Brust aus: so ein junger Mensch. Das wird vermutlich etwas mit der Wirbelsäule sein, doch um alle Möglichkeiten auszuschließen, wirft man auch die Apparatemedizin an: Ein EKG-Gerät steht da, das druckt nur seinen Selbsttest aus und weiter nichts. Kaputt. Zum Glück ist man im Arbeiter- und Bauernreich der Alltagsimprovisation groß geworden, und ganz umsonst sollen die Jahrzehnte der Berufserfahrung auch nicht gewesen sein. Steht doch da noch ein Defibrillator, und den kann man nicht nur zur Akutbekämpfung von Kammerflimmern verwenden. Sondern der hat auch Überwachungskabel und Monitor, und damit lässt sich der Herzrhythmus ganz gut verfolgen: Zwar wird da nichts ausgedruckt. Zwar funktioniert auch die Sprachaufzeichnung nicht an diesem Gerät. Zwar brauchte man eigentlich ein echtes 12-Kanal-EKG, um einem kranken Herzen auf dessen verborgenere Schliche zu kommen – Vorderwandinfarkt zum Beispiel. Aber die Kurve ansehen, die kann man schon, und so richtig dramatisch sieht die gar nicht aus, die Kurve.
    Man gibt dem jungen Mann zu trinken und Kalzium. Die Launehebt sich ein bisschen. Man schärft ihm ein: Wenn er jetzt auf seine Station zurückkomme und sich sein Zustand nicht spürbar verbessere, solle er sich in einer Viertelstunde noch mal melden. Oder jedenfalls dem Dolmetscher hat man’s gesagt; und dann schleicht er davon, der matte junge Mann, und dabehalten kann man ihn nicht, wer soll denn ein Auge auf ihn haben, die nächsten Fälle aber drängen nach. Einer von den Farbigen etwa kommt mit einer klaffenden Kopfwunde an: Dieses dicke, schwarze Haar, eh’ Sie das alles gereinigt und freirasiert haben, das dauert.
    Herr Kadir aber kommt in seine Zelle zurück und legt sich wieder sterben. Außer Liegen ist alles zu anstrengend für ihn. Ein Freund versucht eine Herzmassage. Dass er sich wieder melden soll, hat Herr Kadir nicht so richtig mitbekommen, und selbst wenn, so hätte er Probleme damit: So schwach ist er jetzt wieder, und so schwerhörig sind üblicherweise die Wachen. Er schleppt sich zur Toilette, um zu erbrechen, und erschrickt über das Bild im Spiegel. Seinen Freunden flüstert er zu: Er brauche Hilfe, sonst wäre dies das Ende. Und die Freunde schreien, die Freunde trommeln an die Türen, und nichts tut sich, und sie schreien und trommeln, sie trommeln und brüllen. Bis schließlich jemand kommt und dem Sterbenden Handschellen anlegt: Jetzt darf er ins Krankenhaus. Es ist ein Uhr nachts.
    Der Strafbefehl ist Herrn Wroblewski gar nicht recht: Er hat dem Patienten doch eingeschärft, sich im Bedarfsfall wieder zu melden. Jetzt soll er dreißig Tagessätze zahlen? Herr Wroblewski wird Einspruch einlegen. Es wird ein Prozess anlaufen. Der Algerier wird wieder da sein, halbwegs am Leben noch zwei Jahrespäter, graue Ringe unter den Augen. Flüsternd der Nebenkläger sich als Zeuge einlassen. Sein Anwalt wird immer herumpoltern. Wegen der politischen Dimension. So ein Fall sei bereits 2001 vorgekommen! Die Senatsverwaltung habe die Anschaffung eines zweiten EKG-Gerätes abgelehnt! Zustände und so. Als ob Herr Wroblewski etwas dafür könnte. Alle Sachverständigen werden bemängeln: Viel mehr als nur 50 Prozent Herzleistung hätten gerettet werden können. Beim Infarkt zähle jede Minute. Keinesfalls genüge ein Defibrillator, um einen solchen Infarkt ausschließen zu können. Der Mann habe ins Krankenhaus gehört. Na ja. Zieht man halt den Einspruch wieder zurück. Zahlt man halt die dreißig Tagessätze. Manchmal läuft es eben nicht ganz so rund im Leben.

FRÖHLICH WAR ICH NIE
    Heute sind wir ins falsche Leben geraten. Wir treten in den Gerichtssaal ein, wo es zuverlässig so viel kriminelle Energie zu bestaunen gibt, wo wir sonst den Nachhall einer großen Wut erspüren können

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