Was wir erben (German Edition)
schützen. Deshalb konnte ich kein Mitleid empfinden. Ich habe ihn aus meinem Leben verbannt.
Und dann habe ich einen Beruf gelernt, bei dem es darum geht, Mitleid zu erzeugen. Als Täterin. Als Opfer.Egal, welche Rolle ich spiele, am Ende geht es darum, dass die Zuschauer mitleiden können.
Als Hofffmann da vor mir lag und mir plötzlich klar war, dass er auch ein Säufer war, ein Quartalssäufer vielleicht, oder ein trockener Säufer, der gerade einen Rückfall erlitten hatte, da liefen die letzten Wochen als Film in mir ab und ich sah die ganzen Szenen, die es mir hätten verraten können. Hofffmann beim Essen. Hofffmann in der Kneipe. Hofffmanns Blick, als ich ihm vom Vater erzählt habe. Wenn Hofffmann eins ausstrahlte, dann war es die Gelassenheit dessen, der schon in den Abgrund geblickt hatte, die Großzügigkeit eines Menschen, der sich beschenkt fühlt, weil er es geschafft hat, nicht in den Abgrund zu springen und zu sterben. Das strahlen fast alle trockenen Alkoholiker aus. Ihre Kinder auch. Deshalb ziehen sich Alkis und ihre Verwandten so magisch an. Weil sie diese Erfahrung teilen, weil sie gemeinsam lachen können über die Vergeblichkeit dieses Lebens, weil sie lachen müssen über die Gefahr, die in allen Zellen sitzt, im Erbgut, in der Vergangenheit. Da gibt es diese telepathischen Verbindungen. Wie bei den Zwillingen.
Hofffmann so sehen zu müssen, rief in mir ein Gefühl wach, das ich bis dahin noch nie verspürt hatte. Ich musste weinen. Ich habe mir vorgestellt, wie schlecht es ihm gegangen sein muss, dass er sich in solcher Geschwindigkeit derart zugerichtet hat. Er hatte nur eine Nacht und einen Tag Zeit. Ich habe mich neben den halbnackten Hofffmann gesetzt und meine Hand auf seine Wange gelegt.Ich habe ihn gestreichelt und ihm versprochen, dass ich mich um ihn kümmern werde, komme, was wolle. Hofffmann hat nicht reagiert. Er fing an zu röcheln. Er hat ein paar Mal gezuckt. So erbärmlich er aussah, so widerlich es roch, ich hätte ihn am liebsten von oben bis unten geküsst, aus lauter Dankbarkeit. Ich wusste auf einmal, was zu tun war, ich hatte mich jetzt um diesen Mann zu kümmern, ihm zu helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Er ist krank, habe ich gedacht. Einfach nur krank. Aber sonst ist er der wunderbare Hofffmann. Der Weise. Der Witzbold. Der Helfer, der Retter, der mutige Mann, der Mann, der alles gegen den Strich bürstet. Hofffmann, habe ich ihm ins Ohr geflüstert, wir schaffen das. Und dann ist mir Valon eingefallen. Wo war eigentlich Valon? Ich bin in sein Zimmer gelaufen. Seine paar Habseligkeiten lagen auf dem Boden verteilt. Der Schrank war aufgerissen. Der kleine Fernseher, der vor seiner Matratze auf den zerschundenen Holzdielen stand, lief ohne Ton. Ich bin zurück zu Hofffmann und habe ihn geschüttelt. Wo ist Valon, habe ich geschrien. Wo ist Valon. Hofffmann öffnete kurz die Augen. Er sah durch mich hindurch und sagte das eine Wort: Polizei. Und dann fiel sein Kopf zur Seite. Der Puls war nur noch ganz schwach zu spüren. Ich habe den Notarzt gerufen.
Im Krankenwagen haben sie ihn beatmet und dann auf die Intensivstation gebracht. Die Ärztin meinte, ich solle nach Hause gehen, ich könne nichts machen. Hofffmann müsse erst diese kritische Phase überstehen, vorher sei aneine Entgiftung nicht zu denken, das würde sein Körper nicht aushalten. Es seien Unmengen Vorschädigungen bei ihm festzustellen, deshalb hätten auch anderthalb Tage Suff ausgereicht, um ihn in diesen erbarmungswürdigen Zustand zu versetzen. Sie hätten ihn in eine Art künstliches Koma befördert, aus dem sie ihn aber vielleicht schon morgen wieder zurückholen könnten. Manchmal regenerierten sich die inneren Organe schneller, als man glauben könne. Hofffmanns Leber sei allerding sehr in Mitleidenschaft gezogen, ebenso die Milz, das Herz, über die Lungen konnte sie noch keine
seriöse
Aussage treffen, wie sie sagte. Die Ärztin dachte, ich wäre seine Frau. Sie sagte, dass es ihr leidtue. Gerade für die Angehörigen sei das ja nicht immer ganz so einfach. Wie lange er denn schon trocken gewesen sei? Ich musste passen. Ach so, sagte die Ärztin, dann darf ich Ihnen das alles gar nicht sagen. Ich bin eine gute, eine sehr gute Freundin, versicherte ich ihr. Ich werde mich um ihn kümmern. Es gibt keine Angehörigen. Ich wusste gar nicht, ob das stimmt. Wie lange kennen Sie sich denn schon, fragte die Ärztin. Vier Wochen. Gut, sagte sie, ich hoffe, meine Kollegen spielen da mit. Die
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