Was wir erben (German Edition)
geworden von ihm, sie habe sich geweigert,das Kind abzutreiben. Mit ihr zusammenzubleiben sei unmöglich gewesen, alles sei aufgeflogen, man habe ihn entlassen, weil man den guten Ruf der Schule nicht riskieren wollte. Zur selben Zeit habe er ein Verhältnis mit einem tschechischen Tänzer angefangen, er habe bis dahin nicht gewusst, dass es ihn auch zu Männern hinziehe, die Studentin habe Zwillinge zur Welt gebracht, für die er nun Unterhalt zahlen müsse. Sein damaliges Coming-out habe er ein paar Monate lang sehr exzessiv zelebriert. Dabei sei es passiert. Er habe sich infiziert. HIV. Er nehme Medikamente, damit käme er ganz gut zurecht. Nur manchmal könne er nicht spielen am Abend, das bringe immer wieder große Probleme mit sich, aber er habe nun mal nichts anderes gelernt als diese
Scheiß-
Schauspielerei. Er glaube an das Theater und in dieser Stadt sei das Spielen etwas ganz Besonderes. Sein österreichischer Akzent und der Hang zur bildungsbürgerlichen Verklärung ließen ihn plötzlich mickrig erscheinen. Wir saßen auf einer Parkbank und schwiegen. Er zog ein Foto aus seiner Jackentasche. Die Zwillinge. Er sehe sie nur einmal im Jahr, in den Ferien. Die Mutter lebe seit der Geburt wieder bei ihren Eltern. Er vermisse die Kinder nicht, weil er nie eine richtige Beziehung zu ihnen aufgebaut habe. Die Eltern der Mutter: norddeutsche Protestanten, sagte er und lachte. Ich bin kein Vater, hat Thomas gesagt. Was bist du denn dann, habe ich ihn gefragt. Ich bin der Erzeuger, der unfreiwillige Samenspender. Und dann wollte er von mir wissen, warum ich keine Kinder hätte. Ich hatte keine Lust,mit ihm darüber zu sprechen, obwohl ich kurz den Impuls verspürte, ihm von der Abtreibung zu erzählen, die ich damals ohne sein Wissen auf Vermittlung meiner Mitbewohnerin Sarka in einem Prager Vorort hatte vornehmen lassen. Auch Holger habe ich nie davon erzählt. In mir war die Angst, dieser Eingriff hätte schuld sein können an unserer Kinderlosigkeit. Holger war plötzlich so weit weg. Alles, was ich in N. ohne ihn erlebt habe, die undefinierbare Nähe zu Hofffmann, die Nacht mit Valon, das alles war so unendlich viel näher an mir dran als alles, was ich die letzten Jahre in München erlebt habe. Ein neues Leben und ein altes Leben. Und in dem Moment, als ich mit Thomas auf dieser Parkbank saß und er mich fragte, warum ich keine Kinder habe, da war mir eigentlich klar, dass es kein Zurück mehr für mich geben würde. Kein Zurück in das alte Leben. Kein Zurück in das Meer aus Sätzen über den Vater, über die Mutter, über mich, über meinen Beruf, über die Liebe, über Holger, über Ute, über den toten Bruder. Ich dachte an Dich. Ich war Dir plötzlich dankbar für Dein Auftauchen. Ich hatte kein Wort mehr für das, was ich noch vor ein paar Wochen
die Vergangenheit
genannt hätte. Die Wortlosigkeit fühlte sich befreiend an. War es das, was Hofffmann gemeint hatte? (»Die Wahrheit kennt keine Zeiten. Nur Gefühle. Und Geschichten.«)
Thomas tat mir leid. Er wollte wissen, was mich wieder nach N. verschlagen habe. Er erinnere sich noch gut an unseren gemeinsamen Besuch damals. Hals über Kopfseien wir abgereist. Ich habe Thomas nichts von Dir erzählt. Das hätte er nicht verstanden. Ein bisschen nach den Wurzeln graben, habe ich gesagt. Er hat verständnisvoll genickt. Und dann haben wir uns verabschiedet. Kalt. Enttäuscht.
Ich habe versucht, Hofffmann aus dem Zug anzurufen, ob er nicht Lust habe, mich am Bahnhof abzuholen. Mailbox. Als ich ankam, war niemand da, weder er noch sein Taxi. Ich war gut gelaunt, weil ich mich auf den Abend mit ihm und Valon gefreut habe. Valon wollte wieder kochen. Und Hofffmann hatte die Deutung unserer Erlebnisse angekündigt. Ein Tag Nachdenken müsste wohl reichen, hat er gesagt, als wir aus Berlin zurückgekommen waren. Er hatte mich vor meinem Hotel abgesetzt und fuhr nach Hause, um
ausgiebig
zu schlafen, wie er be tonte. (»Man liebt sein Wissen nicht, wenn man es immer gleich herausposaunt.«) Ich freute mich schon auf die Überraschung, die Hofffmann sich für mich ausgedacht haben musste, denn sonst hätte er mich abgeholt oder ein Zeichen gegeben, dass er nicht kommen könne. Oder hätte Valon gebeten, mich vom Bahnhof abzuholen. Valon bewegte sich in N. mittlerweile ohne Angst. Man kannte ihn und wusste, dass er zu Hofffmann gehörte. Fast hatte sich in N. eine kollektive Fürsorge entwickelt, nachdem Hofffmann das Gerücht der rassistischen Übergriffe gegen
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