Was wir erben (German Edition)
seinen Freund im Ort gestreut hatte. (»Angriff ist die wirksamste Verteidigung. Wir lernen von unseren Feinden. Ob wir wollen oder nicht. Glücklich, wer Feinde hat.«)
Eben hat die Wirtin wieder geklopft. Sie stand diesmal in einem albernen Nachthemd vor meiner Tür. Auf dem Kopf trug sie eine Spitzenhaube. Sie roch nach moderigem Schlaf. Man kann diese Frau eigentlich nicht ernst nehmen. Sie müssen schlafen, hat sie gesagt. In Ihrem Zustand ist Schlaf das Allerbeste. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin. Rainer Werner Fassbinder, flüsterte die Wirtin, der habe auch schon in ihrer Pension genächtigt, das sei natürlich schon lange her. Da habe ihn noch niemand wirklich gekannt, aber für sie als eingefleischte Cineastin sei das eine Sternstunde ihres beruflichen Lebens gewesen. Allerdings, das müsse sie sagen, so viel Tod sei nie mehr wieder in ihrer Pension gewesen. So viel Tod, hat sie sehnsüchtig wiederholt. Kind, wenn Sie schon nicht schlafen, dann müssen Sie wenigstens essen. Da habe ich gesehen, dass sie einen kleinen Teewagen hinter sich stehen hatte. Sie schob den Teewagen an mir vorbei in mein Zimmer. Auf dem Wagen lagen Brote mit frischem Tartar, ein kleines Himbeertörtchen und Bananen. Sie hat sich neugierig umgesehen, bis ich sie samt Wagen wieder hinausgeschoben habe. Eben habe ich eins von den Tartar-Broten gegessen. Unter den Brotstücken hat die Wirtin kleine Zettel deponiert. Auf den Zetteln stehen einzelne Wörter: Morgengrauen. Das. Langsam. Herz. Sehr. Im. Schlägt.
Ich bin kurz ins Hotel, bevor ich mich auf den Weg zu Hofffmann gemacht habe. N. wirkte wie ausgestorben,obwohl die Sonne schien und man sich vorstellen konnte, wie lebhaft es hätte zugehen können auf den Straßen. Als ich vor Hofffmanns Haus stand, fiel mir auf, dass jemand angefangen hatte, die alten Vitrinen vor dem zugenagelten Kinoeingang zu entfernen. Eine war schon weg. Ein heller Fleck auf dem verdreckten, bröckeligen Putz. In den Ritzen krochen kleine, fette Maden herum. Die Haustür stand offen. Absolute Stille. Die wollen mich erschrecken, habe ich gedacht. Am Ende hat Hofffmann alle Einwohner N.s dazu gebracht, heute Abend daheimzubleiben, nur um mich zu beeindrucken. Eine Stadt ohne Menschen, davon hat Hofffmann oft gesprochen. Wie das wäre. Als ich ganz langsam die Treppen hoch bin zu seiner Wohnung und versucht habe, so leise wie möglich zu sein, kam es mir genau so vor. Eine Stadt ohne Menschen. Und dann das: Hofffmanns Tür stand sperrangelweit offen. Das alte Schloss war aus dem Türstock herausgebrochen und lag neben der giftgrünen Fußmatte auf dem Boden. Die Tür war eingetreten. Im Flur lagen Valons Kleider herum. Alle Türen standen offen, in Hofffmanns Zimmer brannte Licht. Ich stieg über das Zeug, das auf der Erde herumlag, und blieb vor Hofffmanns Zimmer stehen. Ich rief nach Valon, nach Hofffmann, nach RICO. Keine Reaktion. Ich machte einen Schritt nach vorne und schaute in Hofffmanns Zimmer. Überall lagen Bierdosen und leere Schnapsflaschen herum. Es stank nach Kotze und Scheiße und Alkohol. Hofffmann lag auf der Matratze, ohne Hose, nur mit einem Unterhemd bekleidet. SeinSchwanz hing klein und schlaff zwischen seinen Beinen. Die eine Hand stippte leblos mit den Fingerspitzen in einem nassen Fleck. Hofffmann, du musst aufstehen, habe ich geschrien. Zwecklos. Er rührte sich nicht. Ich schüttelte ihn und dabei floss dickflüssiger Sud aus seinem Mund. Ich hielt mein Ohr über sein Gesicht und musste beinahe kotzen. Er atmete. Seine Haut war weiß. An beiden Knien leuchteten seitlich zwei lange, pockige Narben. Anstatt wach zu werden, versank dieser Mensch immer tiefer in seinem gigantischen Rausch. Ich fühlte den Puls an seinem Hals. Ich musste an Holgers Reanimationsversuch im Olympiabad denken. An den Vater, der tot in seinem Appartement gelegen hatte. Das Bild, das ich nur vom Hörensagen kannte. Ich hatte Angst um Hofffmann. Im ersten Augenblick, als ich ihn da liegen sah, zwischen den Dosen und Flaschen, stieg diese Wut in mir auf, diese Wut auf den Vater, der mir mit seinem Suff die Kindheit versaut hat. Der alles verseucht hat mit dieser Angst, die er ausgesät hat, freiwillig oder unfreiwillig. Scheißegal. Diese Angst vor dem nächsten Rückfall. Vor dem Tod. Wenn sich die Eltern zerstören, dann zerstören sie auch die Kinder. Selbst wenn du überlebst, bist du tot. Der Vater wollte mir die Chance nehmen, selbst zu entscheiden, ob ich tot sein will oder nicht. Ich musste mich
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