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Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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gewesen. All das Reden, Schummeln, das Palmieren, die kleinen Geheimnisse, das Lachen. Doppelte Böden überall, die Gummibänder und Schaumstoffbälle, die Seiltricks. Am Vorabend hatte er von der Krankheit seines Vaters erfahren, und als er – schon im Scheinwerferlicht – seinen kleinen Koffer öffnete, hatte ihn bei der Ansicht dieses Durcheinanders aus S piegelschachteln, falschen Daumen, gezinkten Karten ein Ekel überfallen, der ihn für Momente bewegungslos machte. Er wünschte sich einen ehrlichen Abend, ein einziges Mal, er wollte heute niemanden übers Ohr hauen.
    Also hatte er einfach eine neue, verschlossene Packung S pielkarten ins Publikum geworfen – bitte aufreißen, prüfen, mischen. Man warte immer, hatte Lambert in den Saal gerufen, auf seine Herzdame, da gehe es ihm nicht anders als den Herren im Publikum. Dabei würden einem doch ohnehin die Worte fehlen, sollte man ihr je begegnen. Ihm jedenfalls. Und sie wüssten doch alle, dass die Wirklichkeit eben keine Herzdame bereithalte, sondern am Ende doch wieder nur eine Sieben oder eine Zehn. Irgendeine Karte halt, die zufällig für einen daliege. Wie hier – und mit einem Wink bedeutete er dem Zuschauer, das Mischen zu beenden. Der Nachbar durfte noch einmal abheben. Ob er nun so gut sein könne, einfach die oberste Karte aufzudecken und den anderen zu zeigen.
    Der kleine Schrei, der den Umsitzenden entfuhr, und wie er sich allmählich durch den Saal weitertrug. Ihre Verwunderung über die Herzdame war nichts gewesen im Vergleich zu Lamberts eigenem Erschrecken.
    Im Programmheft für den Montrealer Auftritt stand wie immer: Magie . Er hatte den Zettel herausgesucht, um zu schauen, wohin er musste (Centaur Theatre Company, Rue du Saint Sacrement) – nach dem Zwischenstopp war unklar, ob er es rechtzeitig schaffen würde. Während des Fluges hatte ihm Kathy ein gutes Dutzend Nachrichten geschickt, die nun beim Wiedereinschalten seines Telefons eine nach der anderen mit einem Piepsen eintrafen. Kathy forderte ihn zunehmend dringlich auf, seine Ankunftszeit mitzuteilen, andernfalls könne sie ihm weder Auftritt noch Gage länger garantieren.
    Der Ausdruck Magie mochte besser sein als Zaubern, mehr aber auch nicht. Und selbst das war zweifelhaft. Vielleicht sollte er Close-up-Illusionschreiben, oder wie die Versuche alle hießen, Gedanken an Feen und Einhörner abzuschütteln.
    Hätte jemand Lambert gefragt, auf wen er neidisch war, er hätte die Maler genannt. Sie erschufen, was sie wollten. Wo ihnen jeder Ausdruck, jede Nuance, jedes Mienen s piel zur Verfügung stand, konnte er nur mit der Schablone das ewig gleiche Bild erzeugen: eine Ansammlung staunender Gesichter im Publikum. Er war an die immer selben Routinen gefesselt.
    Lambert trat aus dem Flughafen. Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene in der Farbe von Staub und verblühten Sträuchern. Hier und da krümmten sich einzelne Laternen und beleuchteten den hellen Tag. Keine Mounties, keine Bären. Eine mehr s purige Straße verließ den Flughafen, rechts und links säumten hellgrüne Verkehrsschilder die Fahrbahn wie Ufergebüsch einen Bachlauf im Sommer.
    Dies also war der nordamerikanische Kontinent, man hatte davon gehört. Keiner da, ihn abzuholen. Und wer sollte auch kommen? Sascha und Viola hatten sich am Gepäckband verabschiedet, ähnlich verschlafen und zerknittert wie er selbst. Während des Flugs hatten sie alle kaum ein Auge zubekommen. Lambert nahm seine Tasche auf die Schulter und stolperte hinüber zum Taxistand. Eigentlich hatte er wieder trampen wollen, aber ihm fehlte die Zeit dazu. Er wusste nicht einmal, welches Zeichen man hierzulande am Straßenrand machte. Und ihm stand der Sinn nicht nach Menschen.
    Die Verzögerung war ohnehin kaum mehr aufzuholen, Kathys Nachrichten hatten daran keinen Zweifel gelassen. Das Treffen hatte gestern ohne ihn begonnen – er konnte nur hoffen, dass er es zu seinem eigenen Auftritt rechtzeitig schaffte. Aber einfangen ließ sich der verlorene Tag nicht mehr. Auf einmal fürchtete Lambert, die Ver s pätung könnte sich durch sein ganzes Leben ziehen.
    Lambert fragte den vordersten Fahrer, wie teuer es bis in die Stadt sei – wenn er die Zahl richtig verstand, ent s prach sie seiner halben Gage –, und wollte eben einsteigen, als ihn etwas in der Kniekehle berührte. Er drehte sich um, es war die vordere

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