Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wir Liebe nennen

Was wir Liebe nennen

Titel: Was wir Liebe nennen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
Stoßstange eines Pick-ups. Die Fahrerin streckte den Kopf durchs Fenster und schaute zurück, mit kräftigen Vorwärts- und Rückwärtsstößen rangierte sie einen übermannshohen Anhänger durch die Gasse zwischen parkenden Autos und Abflughalle. Sie bemerkte nicht einmal, in welche Gefahr sie ihn brachte.
    Lambert ging zu dem Wagen, griff ins Fenster, um sich die Wahnsinnige zu schnappen, und rief, während er sich mit den Fingern in ihren Locken verfing, ob sie noch bei Trost sei, was ihr einfalle, ihn fast über den Haufen zu fahren, und nur wegen ihres Anhängers, er sei eben erst gelandet und müsste längst in der Stadt sein. Zum Sterben habe er keine Zeit. Got that?
    Noch immer hielt er sie an den Haaren fest. In seinem Griff gefangen schaute sie ihn an und zum ersten Mal sah Lambert ihre Augen. Vorsichtig löste sie seine Finger aus ihren Locken und antwortete leise, ob er ihr vielleicht beim Rangieren helfen könne. Dann nehme sie ihn – und dabei legte sie ihre Hand auf den Beifahrersitz – gerne mit.
    Lambert konnte sich nicht erinnern, schon einmal von solchen Augen angesehen worden zu sein.
    Während der Fahrt schwiegen sie beide. Lambert fragte sich, was mit ihm war. Jetzt, da er neben dieser Frau saß, aber auch eben, als er ihr einfach in die Haare gegriffen hatte. Er fragte sich, woher diese aufschießende Aggressivität kam, die ihn manchmal überfiel. Außerdem fragte er sich, ob man nicht zumindest über das Fahrtziel s p rechen sollte. Aber die Straße führte ohnehin nur in die eine Richtung, und vielleicht war es mittlerweile auch schon egal. Am Außen s p iegel stand die Warnung Objects in mirror are closer than they appear . Die Windschutzscheibe war staubig, dahinter noch immer die Landschaft, die Fahrbahn, die Hinweisschilder und Werbetafeln. Kinder, die sich Orangenschnitze in den Mund gesteckt hatten, beim Lachen blitzten statt ihrer Zähne die leuchtenden Schalen hervor. Und was wünschen Sie sich heute vom Leben? Schon waren sie vorbei. Lambert hatte nicht einmal erkannt, wofür geworben wurde.
    Er lehnte das Gesicht an die Fensterscheibe und schob sich dann so weit hinunter, bis er die Frau im Außen s piegel sehen konnte. Sie saß leicht vornübergebeugt, die Ellenbogen ein wenig nach außen gestreckt, sie schien keine geübte Fahrerin zu sein. Ihr Gesicht war hinter den Locken kaum zu erkennen. Sie sah traurig aus. Hatte sie geweint? Zwei Mal betätigte sie versehentlich den Scheibenwischer. Ein Streifen Sonnenlicht fiel auf ihren Nacken. Lambert hätte ihn gerne berührt. Und auch wenn das unmöglich war, erschien ihm die Vorstellung, ihn niemals berühren zu dürfen, seltsam unerträglich. Jetzt hatte er doch den Eindruck, sie schon einmal gesehen zu haben, auch wenn es ausge s prochen lange her sein musste. Von Zeit zu Zeit zog die Frau leise die Nase hoch, wie aus Trotz. Warum nur legten einem immer die falschen Leute die Hand aufs Knie? Er hätte endlos weiterfahren können.
    Draußen wischte lächelnd eine Hausfrau über ihre S püle. Putz nicht länger deine Keime. Töte sie mit Lysol.

10
    Was wir Liebe nennen, ist anfangs nur ein Durcheinander. Lambert konnte sich nicht erinnern, wo er das gelesen hatte und was der genaue Wortlaut war. Irgendein Aufsatz, ein Pamphlet, er hatte es nicht mehr vor Augen. Im Ergebnis war es darum gegangen, dass all diese Gefühle in Wahrheit rudimentäre biochemische Prozesse seien, eine Art einge s pieltes Chaos. Was wusste man schon von der Wahrheit. Jedenfalls ließ das Ganze sich auf diese Weise erstaunlich genau beschreiben.
    Was wir Liebe nennen, war danach nichts anderes als ein Schwappen von Körperflüssigkeiten, ein aus dem Takt geratener Tanz. Ein Schluckauf, letztlich, nur etwas kleiner. Man hatte Untersuchungen angestellt und es mit anderen Quellen des Glücks verglichen, mit Geld, Orgasmen oder Schokolade. Die Liebe war die stärkste unter ihnen.
    Eine Zeit lang hatte Lambert sich mit dem Thema beschäftigt, im Wesentlichen ging es um ein kleines Organ auf jeder Seite des Gehirns, das wegen seiner Ähnlichkeit mit einem Seepferdchen Hippocampus hieß. Ende des achtzehnten Jahrhunderts hatte ein Anatom versehentlich Hippopotamus geschrieben, der Fehler zog sich einige Jahrzehnte lang durch die wissenschaftliche Literatur. Lambert stellte sich vor, wie damals alle mit kleinen Nilpferden in den Köpfen

Weitere Kostenlose Bücher