Was wir Liebe nennen
die plötzliche Schwäche und das Pochen, als hätte er zu viel Blut im Körper oder zu wenig. Wie jedes Mal wünschte er sich an einen fernen Ort, weit weg von den Menschen. Ein Wider s pruch, der nicht aufzulösen war: Wenn er wirklich hätte zaubern können, wäre er nicht hier. Weder gleich auf der Bühne noch jetzt in der engen Garderobe, wo neben ihm Kathy stand und ohne Unterlass auf ihn einredete. Niemand hörte ihr zu.
An der Wand hing ein goldgerahmter S piegel. Lag es an dem fleckigen Glas, dass Lambert seinem Vater auf einmal ähnlich sah? Mit jedem Tag legte die Zeit mehr von ihrer Ãbereinstimmung frei, mit der Geduld einer groÃen Bildhauerin. Waren Nase, Kinn und Stirn schon immer so schmal gewesen, und es hatte sich unter der Kinderhaut einfach nicht gezeigt?
Sein Vater war es gewesen, der Lambert vor vielen Jahren den ersten Zauberkasten schenkte â und er hatte es bis zu seinem Ende bereut. Sie hatten vorher nie einen Zirkus oder ein Varieté besucht, der erste Zauberer, den Lambert gesehen hatte, war er selbst gewesen. Er hatte sich gleich in die Karten geschaut.
Die Begeisterung der ersten Wochen war schnell verflogen, die Neigung aber blieb. Als die Plastikrequisiten aus dem Zauberkasten kaputtgegangen waren, fand Lambert neue Kunststücke in Büchern und übte Seiltricks mit der Gardinenkordel im Wohnzimmer. Als Jugendlicher verbrachte er ganze Nachmittage in einem schlecht gelüfteten Laden für Zauberbedarf und stöberte mit möglichst ernstem Gesicht in den Auslagen, blätterte in Magazinen und lauschte aus dem Halbdunkel heraus den Verkaufsge s prächen. Irgendwann hatte der Ladenbesitzer ihn gefragt, ob er nicht aushelfen wolle.
Er hieà Bastian und stand von morgens bis abends hinter der Theke. Als Chef war Bastian misstrauisch, im Kundenge s präch aber entwickelte er eine verblüffende Lässigkeit und lieà sich auch gerne überreden, einzelne Tricks vorzuführen. Es komme, sagte er Lambert nachher, darauf an, ob das Publikum sich in die Hand beiÃe vor Erstaunen. Wenn Bastian zauberte, biss jeder sich in die Hand â und war gern bereit, die Tricks zu kaufen. Nur er und Lambert wussten, dass die Sachen zu Hause nicht von selbst funktionieren würden.
Eine Lektion hatte Lambert bald gelernt: Je teurer die Tricks, desto zuverlässiger der Biss in die Hand. Eines Tages hatte Bastian ihm die Sensation des Ladens zum Freundschaft s preis überlassen, weil sie die Möglichkeiten seiner Klientel überstieg â eine Durchbohrungsillusion einschlieÃlich eines Dutzends verblüffend scharfer Dolche. Auf jedem Geburtstag hatte Lambert sich anschlieÃend durchbohren lassen, selbst auf seinem eigenen, bis am Ende keiner mehr zusah.
»Aber ihr habt doch noch immer keinen Schimmer, wie es funktioniert«, hatte er gerufen.
»Wir wollen es gar nicht wissen.«
Es hatte Jahre gedauert, bis er auf die Idee kam, eine abendfüllende Show zusammenzustellen. Bis er, um genau zu sein, genug Mut dafür gesammelt hatte. Aus einem Wunder einen Beruf zu machen erschien ihm noch immer absurd. Ein Frevel, wen wollte er damit herausfordern? Es war nicht so, dass er die Bedenken seines Vaters nicht verstanden hätte.
Den Text seiner Vorführung lernte er auswendig wie ein zu Weihnachten aufgesagtes Gedicht. Wenn seine Eltern nicht da waren, übte Lambert im Wohnzimmer seinen Auftritt, er s prang hinter einer Gardine hervor in die Mitte des runden Mohairteppichs, der den gedachten Lichtkreis eines S pots markierte, breitete die Arme aus und rief: »Ich danke Ihnen, dass Sie so zahlreich gekommen sind.« Dann folgte der erste Auftritt beim Sommerfest der Schrebergartenanlage, und Lambert blickte in die leeren, einsamen Gesichter der Zuschauer, von denen kein einziger zahlreich gekommen war.
Er trat auf, wo immer er konnte, gratis, um sich einen Namen zu machen. Auf Schulfeiern, beim Jubiläum eines S portvereins, im Kinderprogramm des Freibads. Ãberall hinterlieà er den Zettel mit seiner Telefonnummer. Der unbeschreibliche Lambert. Sie werden Ihren Augen nicht trauen. Niemand lieà sich auf das Ver s prechen ein. Endlich aber meldete sich der Leiter eines Supermarkts, der ihn bei der Weihnachtsfeier des Altenheims gesehen hatte. Seinen ersten bezahlten Auftritt absolvierte Lambert neben der Fleischtheke. Die Wurstecken, die er erst verschwinden und dann in den Händen vorbeikommender
Weitere Kostenlose Bücher