Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Nickelbrille des Lehrers, wortlos zum Fenster ging,
zu jenem Fenster, durch das sie sich immer weggeträumt hatte. Wie er dann mit seiner freien Hand den Drehgriff umklammerte,
mit einem Ruck das geschlossene Fenster aus dem Rahmen riss, es kurz auf |196| gleicher Höhe neben dem Lehrer balancierte, das ganze Fenster, als ob es nur ein leichtes Stück Pappe wäre, es sodann in einer
lässigen Drehbewegung hinter sich führte, wo es sich auf dem Parkett krachend in ein tausendteiliges Zerstörungsmosaik aus
Holz, Glassplittern und Kittbröckchen verwandelte.
Wie der Lehrer, nun schon mit dunkelrotem Gesicht nach Luft ringend, sich gurgelnd zu artikulieren versuchte, wie er sich
mühte, seine langfingerigen Hände gegen den Vater zu erheben, wie er es nicht konnte, weil das von des Vaters Faust zusammengezogene
Schulmeisterjäckchen zur Zwangsjacke geworden war. Wie der Lehrer dann resigniert erschlaffte. Wie sich in seinem Gesicht
Verwunderung breitmachte, als er bemerkte, dass er hinaufschwebte, immer höher und höher, dann durch das leere Fensterloch
nach draußen geschoben wurde und jetzt frei schwebte, drei Stockwerke über dem Katzenkopfpflaster des Schulhofs.
Wie sie selbst, die eben noch stumm gefleht hatte, nun von Panik erfasst wurde, dass ausgerechnet jetzt ihr Flehen erhört
würde und sie schuld wäre, wenn der Lehrer plötzlich aus dem Fensterrahmen verschwände, abwärts, ein letztes Mal Luft in seine
befreiten Lungen saugend, um sie sofort als Schrei wieder herauszupressen. Wie sie noch intensiver flehte: «Lieber Gott, mach,
dass er ihn
nicht
loslässt», wie sie gar nicht mehr hinsehen mochte, aber ihren entsetzten Blick dennoch nicht losreißen konnte von dem, was
sich da unmöglich abspielen konnte, unausdenkbar, und was sich dennoch abspielte.
Wie sie registrierte, dass die Gesichtsfarbe des schwebenden Lehrers von Rot zu Blau wechselte. Wie ihr die Redewendung «sein
blaues Wunder erleben» durch den Kopf schoss. Wie sie bemerkte, dass auch sie den Atem angehalten hatte, solidarisch mit dem
Lehrer, und jetzt nach Luft rang. Wie sie die Stille im Klassenzimmer unter dem tosenden Rauschen in ihren Ohren kaum aushielt.
Wie |197| die Zeit stehenblieb: eingefroren der Arm des Vaters im Fensterloch, das Glitzern der Glasscherben auf dem Boden, kein Ton
von der Klasse, selbst das Ticken der Uhr über der Wandtafel verstummt, die Wogen der Ostsee hinter dem Lehrer zu blauen Dünen
gefroren.
Dann, nach einer Ewigkeit: eine winzige Bewegung. Zaghaft. Der Arm des Vaters beugte sich im Ellbogen, der Lehrer näherte
sich wieder dem Fenstersims, langsam, behutsam. Die Schuhe schrammten über das Gesims, baumelten wieder über dem sicheren
Parkett. Die Fensterreste knirschten unter den Reitstiefeln des Vaters, als der sich rückwärts zum Lehrerpult bewegte, sich
um die eigene Achse drehte, wie ein Tangotänzer beim Schlussakkord, und den Lehrer auf das Pult setzte.
Frau Widdel erzählte, wie der Vater den Schraubstock seiner Faust öffnete, wie der Lehrer endlich pfeifend nach Luft rang.
Wie der Vater sich zu ihm hinabbeugte, sodass sich die Nasenspitzen fast berührten, wie er ihn lange anstarrte. Wie Pferdegutbesitzer
Tessmann, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben, das Klassenzimmer leise verließ, die Tür sanft hinter sich zuziehend.
Wie der Lehrer noch eine ganze Weile auf seinem Pult sitzen blieb, seine dünnen weißen Unterschenkel entblößt zwischen den
hochgerutschten Hosenbeinen und der Ziehharmonika der grauen Wollsocken, die blauen Gebirgszüge seiner Krampfadern den Blicken
der Zöglinge ausgesetzt.
Wie sie nicht wusste, was nun werden würde. Wie niemand wusste, was nun werden würde. Wie selbst der Lehrer zum ersten Mal
nicht wusste, was nun werden würde. Wie die Kinder auf ihre schweißnassen, ineinander verkrallten Hände starrten. Wie sie,
nach des Lehrers leisem «Der Unterricht fällt heute aus», den Scherben ausweichend aus dem Schulzimmer schlichen. Wie geprügelte
Hunde, als hätten sie etwas Schlimmes getan und nicht der Vater, als hätten |198| sie über dem Schulhof gehangen und nicht der Lehrer. Wie sie sich nicht in die Augen schauten.
Und dann erzählte Frau Widdel vom Glücksgefühl, das sie auf dem Nachhauseweg überfiel, weil sie merkte, dass der Vater es
für sie getan hatte, dass er auf ihrer Seite war. Wie sie fast platzte vor Stolz auf ihn, wie sie ihn für seine Tat liebte.
Und wie enttäuscht sie
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