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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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im Kopf herum. Die
     vom Altbauern, der seine Scheune dreimal gebaut hat: das erste Mal neu, das zweite Mal, nachdem sie abgebrannt war, und das
     dritte Mal, nachdem sie die Russen zerschossen hatten. Und dann kam die einzige Windhose seit Menschengedenken, fräste eine
     schmale Schneise durch die Äcker und streifte auch Amerika. Ganz am Rande. Genau dort, wo die dreimal gebaute Scheune stand.
     Der Bauer hat sich noch in derselben Nacht am einzigen verbliebenen Querbalken erhängt.
    Und die Geschichte vom wertvollen Trakehnerhengst, der in die Jauchegrube gefallen war, weil die nicht gesichert war und das
     Pferd keine Chance hatte, da wieder herauszukommen, und fast ersoffen wär, wenn Müsebeck nach dem flehenden Hilferuf der adeligen
     Frau des Schlossbesitzers nicht den Mistkran an den Trecker gehängt hätte und zu Hilfe geeilt wäre. Wie Müsebeck, weil alle
     anderen sich nicht trauten oder sich zu gut waren, persönlich in die Jauchebrühe springen musste, um dem panischen Tier die
     Tragegurte unter dem Leib durchziehen |193| zu können, was leider nicht ohne Tauchen möglich war. Wie er das Pferd mit knapper Not aus der Gülle hieven konnte, wobei
     der Kranarm fast eingeknickt wäre, und wie er dann, vom Scheitel bis in die Stiefel triefend vor stinkender Jauche, zum Schloss
     hochschaute und dort, hinter der Brüstung des Balkons, den Wessi-Banker entdeckte.
    Aber die Geschichte, die mich bis in den Schlaf hinein verfolgte, war die Geschichte von Müsebecks langjähriger Bekannter
     Waltraut. Die Geschichte von Frau Widdel.

|194| Waltraut
    «Waltraut», hatte Müsebeck berichtet, «Waltraut kam zu DD R-Zeiten in der Mittagspause des Konsum immer in unsere LP G-Kantine zum Essen.» Man hat sich gut kennengelernt, und so kam es, dass man einiges wusste über das Leben des anderen.
    Über die Jahre hat Frau Widdel Müsebeck erzählt, wie sie als Tochter des weit herum geachteten Pferdegutbesitzers und Züchters
     Tessmann aufgewachsen war, als einzige Tochter neben vier Brüdern. Wie hart sie arbeiten musste, als ältestes der fünf Kinder.
     Wie sie dem Vater auf dem Hof und der Mutter mit den kleinen Brüdern unter die Arme greifen musste. Wie müde sie daher in
     der Schule immer war, wie sie aus dem Fenster der Schulstube direkt auf die graue Ostsee hinausblickte, sich vorstellte, sie
     wäre ein Möwe und flöge in die Freiheit, rüber nach England oder Amerika. Sie ahnte ja noch nicht, dass sie später tatsächlich
     in Amerika leben würde, in diesem Amerika-Kaff, hahaha. Sie erinnerte sich genau, wie sie in diesen Traum hineinflog, aus
     dem sie unsanft abgeschossen wurde durch einen peitschenden Knall, wenn der strenge Lehrer seine Weidenrute wieder mal auf
     ihr Pult schlug oder – ob aus Versehen |195| oder Absicht, weiß sie bis heute nicht – auf ihre Hand. Sodass sie tagelang die Zügel nicht halten konnte beim Reiten. Und
     dann, anstatt mit wehendem Haar den Strand entlangzugaloppieren, im Wettrennen mit den Möwen, mit ihren Freudenschreien das
     Tosen der Wellen übertönend, die Salzgischt, von den wirbelnden Hufen hochgeschleudert, auf ihren Lippen schmeckend, verschmelzend
     mit dem kraftvollen Rhythmus des Tieres unter ihr, sich auflösend in der Sehnsucht nach Freiheit, in diesen Moment des Glücks   … wie sie sich stattdessen mühen musste, mit vor Schmerz pochender Hand fünfzigmal zu schreiben: «Es ist verboten, während
     des Unterrichts zu träumen.»
    Besonders gern erzählte Frau Widdel, wie eines Tages ohne Vorwarnung die Tür zu Schulstube krachend aufflog und den Blick
     frei machte auf ihren Vater, den Pferdegutbesitzer Tessmann, der stumm auf der Schwelle stand, mächtig, den Rahmen ganz ausfüllend.
     Und den Lehrer anstarrte. Und wie diesem, unter dem zornigen Augengeblitze des Eindringlings, sein «Na, hören Sie mal   …» im schrumpeligen Truthahnhals erstickte. Wie der Vater bedächtig auf den Lehrer zuging und wie dieser sich nun, vor den
     staunenden Kindergesichtern, verwandelte vom übermächtigen Tyrannen in einen hilflosen Gnom. Wie der Vater ihn beim Kragen
     packte, mit nur einer Faust, die andere Hand hing entspannt neben der geschwungenen Seitennaht der Reithose, wie er ihn mit
     dieser einen Faust hochstemmte, sodass die schwarzglänzenden, penibel polierten Schuhe des Lehrers mit hängenden Spitzen eine
     Handbreit über dem gleichfalls glänzenden Parkett schwebten.
    Wie der Vater, nunmehr Auge in Auge mit der jetzt leicht beschlagenen

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