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Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
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war, als sie am nächsten Tag von ihm doch wieder in die Schule geschickt wurde. Als ob nichts gewesen
     wäre. Und wie verwundert sie dort war, das Fenster repariert, das Parkett unbeschädigt und den Lehrer in alter Form anzutreffen.
     Als ob nichts gewesen wäre.
    Eine Zeitlang ist sie nicht mehr eingeschlafen in der Schule. Aber dann passierte es ihr eben doch wieder. Und dann immer
     öfter. Und dann war auch diesbezüglich wieder alles, als ob nichts gewesen wäre. Nur der Lehrer hat es, wenn sie einschlief,
     geflissentlich nie wieder bemerkt.
    Eigentlich hätte aus der kleinen Waltraut eine Pferdesportlerin werden müssen, eine weltberühmte Military-Reiterin. Vielleicht
     aber auch eine Pferdeflüsterin, deren Ratgeber und Fachpublikationen von den Bestsellerlisten gar nicht mehr heruntergekommen
     wären.
    Oder sie wäre in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und hätte als Züchterin mit ihrer speziellen Warmblutlinie «Tessmann»
     international Furore gemacht. Sie wäre in der ganzen Welt herumgereist, als geachtete und respektierte Institution auf allen
     Rennplätzen von Ascot über Baden-Baden bis Dubai. Der mondäne Jetset der Ölscheichs und Pharmamilliardäre wäre ihre Arena
     gewesen, ihr Gestüt an der Ostsee hätte die ganze Region zum Drehkreuz von prominenten Pferdefans gemacht. Für einen Fingerhut
     voll Sperma ihrer Hengste wären Summen bezahlt worden, die ein normal arbeitender Mensch in zehn Jahren nicht verdient. Man
     hätte |199| ihre Lebensgeschichte in Hollywood verfilmt. «Wild Ride» wäre ein Oscar-Erfolg geworden, die ganze Welt hätte miterlebt, wie
     es die kleine Waltraut Tessmann vom träumenden Schulmädchen zur Milliardärin, zur Besitzerin eines ganzen Pferdeimperiums
     gebracht hätte.
    Aber ach   …
    Der alte Tessmann hätte vor seinem denkwürdigen Schulbesuch bedenken sollen, mit wem der Lehrer Umgang pflegte, mit welchen
     Parteikadern er jeden Samstag Strategien für den Triumph des real existierenden Sozialismus besprach. Und spätestens, als
     er die Ehrennadel des Ministeriums für Volksbildung am Revers der Lehrerjacke blitzen sah, hätte er innehalten müssen, hätte
     er dem Schulmeister auf die Schulter klopfen und ihn zu einem freundlichen Gespräch über die verträumte Tochter bei einem
     schönen Abendbrot auf das Gut einladen müssen.
    Im Arbeiter- und Bauernstaat konnte man dem Tessmann solch gutsherrliches Verhalten keinesfalls durchgehen lassen. Schon gar
     nicht gegenüber einem verdienten Parteimitglied. Das grenzte schon an Volkszersetzung, ganz abgesehen von der mutwilligen
     Zerstörung von Volkseigentum. Das Gut ihres Vaters wurde in das Volkseigentum überführt, und um das Volk vor nachträglichen
     Ansprüchen der Erbin zu schützen, wurde Klein Waltraut später nicht zum Studium der Veterinärmedizin, Fachrichtung Genetik,
     zugelassen.
    Im Arbeiter- und Bauernstaat wurden Arbeiter gerne zu Bauern und Bauern zu Arbeitern gemacht. Tessmann wurde in einen Volkseigenen
     Produktionsbetrieb für Fensterfertigung (!) integriert, und ein ehemaliger Dreher übernahm die Leitung des Gestüts. Ob die
     Qualität der DD R-Fenster deswegen merklich nachließ, ist nicht überliefert, aber das Gestüt ging rasant den Bach runter und wurde zu einer Schweinemastanlage
     umfunktioniert. Zwar konnte |200| das vorgeschriebene Schweinehälften-Jahres-Soll nicht annähernd erfüllt werden, aber Schweine passen einfach besser zum Sozialismus:
     Wozu braucht das Volk schließlich Rennpferde?
    Im Arbeiter- und Bauernstaat wurden ehemals potentielle Milliardärinnen nicht sonderlich gefördert. Trotz befriedigender Schulnoten,
     was beim doch eher angespannten Verhältnis zwischen Waltraut und dem Lehrer einiges hieß. Auch ihrem Antrag um Aufnahme in
     die Deutsche Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig konnte leider ebenso wenig entsprochen werden wie dem auf Zulassung
     zum Verterinärmedizinstudium. «Die Genossin Tessmann, Waltraut, konnte nicht hinlänglich glaubhaft machen, dass sie den Geist
     dieser Volkseigenen Anstalt zum Nutzen der Deutschen Demokratischen Republik zu verinnerlichen und weiterzutragen willens
     und in der Lage wäre.» Man hatte im Gegenteil begründete Bedenken, die im Wesentlichen ihrer bürgerlich-feudalistischen Erziehung
     geschuldet waren, die sie sich als Gutsbesitzerstochter hatte angedeihen lassen.
    So wurde aus Waltraut eine Lebensmitteleinzelhandels-Fachkraft. Die Lehre beim Konsum brachte sie mit Anstand hinter

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