Was wir unseren Kindern in der Schule antun
bereits verinnerlicht haben, aber bei der Aufgabenstellung nicht das Wissensnetz eines Kindes zugrunde legen. Kindern fehlen oft für die Lösung entscheidende Fähigkeiten.
Im ersten Fall ist es eine reine Frage der Zeit â eine Frage von recht wenig Zeit. Schaut man sich diese Aufgaben nämlich genauer an, erkennt man meist, dass schon wenige Wochen später alle Kinder diese sogenannten Transferaufgaben lösen können. Entwicklungsunterschiede oder das Alter der Kinder werden also bei dieser Bewertung überhaupt nicht berücksichtigt. Stattdessen wird der Schluss gezogen: Wer die Aufgaben zum Zeitpunkt der Probe nicht lösen kann, der ist nicht leistungsfähig, ist nicht intelligent.
Im zweiten Fall verkennen Erwachsene, in welcher Entwicklungsphase sich Kinder in der Grundschule befinden und was sie an Grundlagen für Ãberlegungen bislang erworben haben. Kinder haben gerade erst diese vielen Linien und Bögen als unterschiedliche Buchstaben zu differenzieren gelernt und die Zusammenhänge zwischen einem âKreuzâ, zwei geraden Strichen und vielen Zahlen dazwischen als Rechenaufgabe verstanden. Zu diesem Zeitpunkt ist eine andere Anordnung der Aufgaben, etwa in einer Rechenmauer, einer Zielscheibe oder auch einer einfachen Platzhalteraufgabe etwas völlig Fremdes und nicht nur eine Weiterentwicklung oder Abwandlung des Bekannten für sie! Sie sind gerade in dem Prozess, Dinge ganz genau zu differenzieren, bei Buchstaben macht ein kleiner Strich oder auch nur die Ausrichtung einer Rundung einen enormen Unterschied (beispielsweise bei t und l oder bei b und d), bei Rechenaufgaben ist die Reihenfolge der Zeichensetzung entscheidend. Jeder kleinste Unterschied wird wahrgenommen â muss wahrgenommen werden. Es ist für Kinder nicht per se ersichtlich, dass nun plötzlich trotz anderer Darstellung im Prinzip die gleiche Aufgabenstellung zugrunde liegt. Woher auch? Kinder haben bislang ihre Welt einfach nur so erlebt, wie sie war â jetzt beginnen sie zu differenzieren und genauer hinzuschauen. Dass man Dinge zusammenfassen kann, dass es Ãhnlichkeiten und Entsprechungen gibt, manche Unterschiede wichtig, andere nicht wichtig sind, müssen sie erst lernen. Mit der Zeit werden sie generalisieren: Am Anfang sind beispielsweise für Kinder Buchstaben, denen aufgrund der Schriftart ein Bogen oder ein Strich fehlt, zunächst nicht lesbar. Für Kinder ist erst einmal alles neu, Zusammenhänge müssen erst erfahren werden und es muss erst einmal gelernt werden, wo man unterscheiden und wo man generalisieren kann.
Ich möchte diesen Aspekt gern noch an einem Beispiel verdeutlichen. Eine sehr beliebte Transferaufgabe ist zum Beispiel folgende: Heimat- und Sachunterricht, zweite Klasse, Thema Igel. Die Kinder lernen in der Schule: âDer Igel ist ein Winterschläfer, er frisst sich eine Speckschicht an, sucht sich ein geschütztes Plätzchen, sein Puls verlangsamt sich, er schläft den
ganzen Winter durch.â In der Probe wird dann gefragt: âDer Bär ist ein Winterschläfer. Wie überlebt er den Winter?â In den Augen eines Erwachsenen ist das eine klare Sache. Er weiÃ, was Oberbegriffe sind, hat sich gemerkt, was für einen Igel gilt, und überträgt das nun auf den Bären. Die Kinder sind zu diesem Zeitpunkt sieben oder acht Jahre alt â und bekommen teilweise den Knopf ihrer Hose noch nicht auf, um aufs Klo gehen zu können â, sie haben gerade lesen und schreiben gelernt und freuen sich über den ersten Schnee. Und sie lernen erst am Ende der zweiten Klasse, also gut ein halbes Jahr nach dieser Probe, was Sammelnamen sind, also dass man bestimmte Dinge unter einem Sammelbegriff zusammenfassen kann: Birne, Apfel, Zwetschge sind Obst. Das ist eine Vorstufe des Oberbegriffs und der Ãbertragung von Wesensmerkmalen. Wenn also nicht ein Geschwisterkind vorher diese Frage schon einmal in einer Probe hatte oder ein Vater sie bei seiner Internetrecherche gefunden hat, sodass diese Frage beim Ãben genau so gestellt oder Zusammenhänge erklärt wurden, ist diese Fragestellung für ein Kind in etwa wie: âDas Auto ist rot. Es fährt hundert Kilometer pro Stunde, es hat Lederbezüge, es verbraucht acht Liter Benzin pro Kilometer. Die Kaffeekanne ist auch rot. Was kannst du über die Kaffeekanne sagen?â
Kinder kennen noch keine Oberbegriffe und viele sind damit auch nicht aus dem
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