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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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Sprachgebrauch heraus vertraut, insbesondere die Kinder aus sozial benachteiligten Schichten oder mit Migrationshintergrund. Bei den meisten Transferaufgaben benötigen die Kinder Fähigkeiten oder Wissen, das sie noch nicht erworben haben — außer eventuell außerschulisch, meist durch das Engagement und die Situation im Elternhaus. In der Schule genügt es dann oft, wenn zwei oder drei Kinder die Aufgabe richtig beantwortet haben, das beweist ja, dass die Aufgabe lösbar war und zeigt die Kinder auf, die Anforderungen im besonderen Maße erfüllen. Dass gar nicht dafür gesorgt wurde, dass alle Kinder die gleichen Fähigkeiten und das Wissen erworben haben, um den eigentlichen Transfer vollziehen zu können, wird nicht thematisiert. Dafür gibt es noch viele weitere Beispiele:

    Mathematik, Mitte der zweiten Klasse, Probe „Addieren und Subtrahieren im Zahlenraum bis hundert” — hier findet man die Aufgabe: „Susi und Steffi haben zusammen 84 Aufkleber. Susi hat 16 Aufkleber mehr als Steffi.“ Sieht man nicht genau hin, liegt der Gedanke nahe, dass die Aufgabe für die Jahrgangsstufe passend wäre. Tatsächlich verbirgt sich dahinter aber ein Gleichungssystem mit zwei Gleichungen und jeweils zwei Unbekannten, die über einen x-Ansatz gelöst werden müssten. Stoff der weiterführenden Schulen. Man könnte mit den Kindern eine zeichnerische Lösung üben, aber dann wäre es wieder keine Transferaufgabe mehr. Zudem bekommt man vorab auch deutlich die Anweisung, diese Aufgabe ja nicht zu üben, sonst könne sie ja jeder!
    Heimat- und Sachunterricht, zweite Klasse, Probe „Obst/Gemüse”: „Warum werden Bananen grün gepflückt?” Für Kinder, die oft nicht einmal die verschiedenen Gemüse- und Obstsorten im Obstladen um die Ecke kennen, ist es nicht unbedingt aus der eigenen Erfahrung heraus erklärbar, dass Bananen auf dem Weg verfaulen würden. Woher sollen sie das alles wissen? Wo ist da der Transfer?
    Die Liste an derartigen Transferaufgaben ließe sich recht beliebig fortsetzen. Der Punkt ist nicht, dass diese Fragen nicht gestellt und behandelt werden sollten — fragwürdig ist, dass sie in Proben gestellt werden. In Proben, die selektionswirksamen Charakter haben. Alle diese Aufgaben sind lernbar, viele davon sind aber auch einfach Wissensfragen. Manche Bananensorten werden beispielsweise auch aus dem Grund grün gepflückt, weil sie dadurch geschmacklich besser ausreifen — haben Sie das gewusst?
    Interessant ist in dem Zusammenhang zudem, dass Kinder in diesem Alter noch gar nicht selbst reflektieren können. Kinder leben im Moment und sind Teil ihrer Welt. Sich innerlich zu distanzieren, etwas eigenständig aus einer anderen Warte und insbesondere mit einem größeren Überblick sehen zu können, das gelingt erst viel später. Im Gegensatz zu Erwachsenen haben sie noch kein „inneres Gegenüber“, mit dem sie in Zwiesprache Fähigkeiten reflektieren, verschiedene Möglichkeiten
durchdenken und beurteilen oder zur Lösung einer komplexen Aufgabe kommen können. Wir Erwachsenen können uns selbst abfragen: „Wie heißen die Bundesländer?“, und vor unserem inneren Auge eine Europakarte entstehen lassen, wenn die Frage gestellt wird, in welchen Ländern mit Euro gezahlt wird. Wir werden aber auch auf Erfahrungen zurückgreifen und im Geiste beispielsweise die Länder abklappern, die wir bereist haben. Kinder können das nicht, ihre inneren Bilder werden gerade erst entwickelt, viele Erfahrungen erst noch gemacht. Entweder eine Sache ist ihnen vertraut — oder eben nicht. Es ist also völliger Unsinn, so etwas von ihnen zu verlangen. Um den Aufgabenstellungen überhaupt irgendwie gerecht zu werden, lernen sie meist stur auswendig für Proben. Doch auch Zusammenhänge zu finden, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, Erkenntnisse neu zusammenzusetzen — das alles sind Fähigkeiten, die erst explizit erlernt und geübt werden müssten, aber vielfach in Probeaufgaben vorausgesetzt werden. Nach meiner Erfahrung können Kinder in diesem Alter genau das, was sie gelernt haben, und sehen dann von diesem Punkt aus den nächsten kleinen Schritt, dieser ist meist weit kleiner, als wir Erwachsenen denken. Ich halte es für völligen Unsinn, dass es Kinder geben soll, die nur zur Reproduktion, aber nicht zum

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