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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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Noten. Doch werfen die ab der zweiten Klasse obligatorischen Proben ihre Schatten voraus: Denn wer sollte den Eltern plausibel machen, dass den Leistungsnachweisen zwischen der ersten und zweiten Klasse leider völlig unterschiedliche Bewertungsstrukturen zugrunde liegen? In der ersten Klasse würden sich Kinder und Eltern daran gewöhnen, dass ich durchaus auch anspruchsvolle Aufgaben für die Lernzielkontrollen wähle, die aus dem Unterricht erwachsen und daher — das ist ja das Ziel meines Unterrichts — auch von möglichst allen Kindern beantwortet werden können, sodass eigentlich alle die volle Punktzahl erreichen.
    In der zweiten Klasse muss ich dann jedoch plötzlich Proben konzipieren, die darauf abzielen, herauszufiltern, welche wenigen Kinder Leistungen erbringen, die den Anforderungen „in ganz besonderem Maße“ entsprechen, sodass die meisten Kinder nicht mehr die volle Punktzahl erhalten werden.
    Würde ich das tun, dann würden sich die Eltern zu Recht sehr wundern — und es gäbe Ärger. Aus diesem Grund schreibt
man also mehr oder weniger von Anfang an „Proben“ — zunächst nur mit Punkten bewertet, ab der zweiten Klasse zudem mit „richtigen“ Noten.
    Der KMK-Vorgabe zur Notengebung unterliegen alle Bundesländer, sodass sich einzelne Bundesländer zwar in der Ausführung, der Art der Umsetzung oder in Bezeichnungen unterscheiden können, das Prinzip ist aber überall das gleiche. In allen Bundesländern erhalten Kinder, deren Leistungen den Anforderungen noch entsprechen, die Note „Vier“.
    Früher ging das Benotungsdilemma mit all seinen Konsequenzen hier in Bayern erst in der dritten Klasse los. Eltern wussten ein Lied zu singen vom Übergang aus der zweiten in die dritte Klasse: Mit den Noten wurde plötzlich alles ganz anders. Wie viele Kinder hatten statt der gewohnten vollen Punktzahl nun in den Proben nur noch die Hälfte der Punkte und damit eine schlechte Note! Vorher schnitt fast die ganze Klasse gut ab, nun verteilte sich schlagartig oder manchmal auch schleichend das Ergebnis über sechs Notenstufen.
    In meiner ersten Klasse führt das nun dazu, dass ich mir Aufgaben überlegen muss, die sozusagen deutlich machen, welche Kinder Leistungen zeigen, die den Anforderungen schon in ganz besonderem Maße entsprechen. Das, was im Unterricht geübt und gelernt wurde, ist nach den Vorgaben ja reproduzierend oder im besten Fall mit minimalen Abwandlungen reorganisierend. Solche Aufgaben sollen aber nur gerade zu etwa vierzig Prozent in der Probe vorhanden sein. Der Lehrer muss sich beim Erstellen der Probe also nun nicht mehr fragen: Was müssten alle Kinder jetzt eigentlich wissen und können? Sondern: Was könnten sie vielleicht möglicherweise können, welche Aufgaben könnten sie eventuell lösen?
    Die Kinder haben dann zum Beispiel die Aufgabe, nicht nur das Wort „Ast“, sondern auch das Wort „Herz“ mithilfe der Anlauttabelle zu schreiben. Sie müssen sich dafür das Wort gut vorsprechen, die einzelnen Laute hören und dann den zugehörigen Buchstaben auf der Anlauttabelle finden. Bei „A-s-t“ hört man jeden Buchstaben problemlos, aber viele Kinder schreiben „Herz“ mit „s“. Der Buchstabe ist ihnen vertrauter
als das „z“ und wenn sie sich „z“ vorsprechen, den Laut dann bis zum Erkennen lange vor sich hin summen, hören sie eben „S“ wie „Sonne“. Das gibt schon mal einen Punkt weniger und an dieser Stelle zeigt sich, wer den Anforderungen nicht in besonderem Maße entspricht. Auch das „e“ klingt nicht rein und das „r “ wird oft überhört, weil es ja mit dem „e“ regelrecht verschmilzt. Wer von den Kleinen aber jetzt schon so genau hinhören kann? Ähnlich verhält es sich dann bei Wörtern wie „Wald“ oder „Iglu“. Und darüber, dass der Anfangsbuchstabe von Namenwörtern groß, alle Buchstaben im Wort aber klein geschrieben werden, haben wir im Unterricht ebenfalls schon gesprochen. Auch dass jeder Buchstabe einen bestimmten Platz innerhalb der Lineatur hat, könnten die Kinder wissen, immerhin sind sie schon acht Wochen in der Schule.
    Im Prinzip ist in einer Probe also keine Aufgabe dabei, die nicht generell lösbar wäre. Und doch gibt es mehrere Aufgaben, bei denen ich schon von vornherein

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