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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sanbine Czerny
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Gesprächen mit Kindern aus den ersten und zweiten Klassen sowie deren Eltern. Inzwischen wird ja bereits im Kindergarten „diagnostiziert“. Zugleich fordern Eltern diese Urteile oft geradezu ein. Wie vielen Eltern wird schon in dieser Phase, wenn auch unbeabsichtigt, Angst vor der Schule gemacht! Das Kind hätte hier Schwierigkeiten, dort könne es dieses und jenes nicht, hier bestehe Förder-, und dort sogar dringendster Handlungsbedarf. Eltern erfahren schon in diesem Stadium, dass ihr Kind später wohl eher nicht aufs Gymnasium gehen wird — das Kind ist da gerade mal vier Jahre alt —, denn es könne sich ja einfachste Reime nicht merken, damit wäre es nicht einmal für eine normale Grundschule geeignet. Wie viele Eltern sitzen in der ersten Klasse in meiner Sprechstunde und erzählen mir, was ihr Kind während der letzten paar Jahre schon mitmachen musste, um gefördert zu werden. Welche Untersuchungen es durchlaufen, welche Therapien es bereits hinter sich hat und welche Diagnosen von Ärzten gestellt wurden. Wie viele Kinder erhalten bereits im Kindergartenalter Ergotherapie oder Logotherapie! Niemand möchte etwas versäumen. Hut ab vor den Eltern, die hier Ruhe bewahren, ihrem Kind erst einmal Zeit geben sich zu entwickeln, und ganz genau schauen, welche zusätzliche Förderung es wirklich braucht und welche dem Kind nur aus einer Angst
heraus übergestülpt würde, etwas zu versäumen. Niemand will später dem Vorwurf ausgesetzt sein, nicht alles zum Wohle des Kindes getan zu haben.
    Dieses „Alles für das Kind tun“, der Zwang, um jeden Preis zu „fördern“, zieht natürlich seine Kreise. Auch als Lehrer gerät man unter Druck und möchte nichts versäumen. Und nimmt dabei in Kauf, dass dadurch fast unweigerlich und nur allzu leicht der Fokus von Anfang an darauf gelegt wird, was alles noch nicht klappt, anstatt die Entwicklung eines Kindes mit Zuversicht und Ruhe zu begleiten und dem Kind Zeit zu geben. So bekommt immer mehr Gewicht, was ein Kind alles nicht kann — in der Schule wird das durch entsprechende Korrekturen der Arbeiten, aber auch in Gesprächen deutlich gemacht. Die Eltern daheim sollen ja sehen, was sie mit ihrem Kind noch üben müssen, sie sollen wissen, dass die Hausaufgaben unvollständig waren oder zum wiederholten Mal die Schere fehlte. Denn ein Kind, das sich nicht organisieren kann, ist vielleicht eher nicht fürs Gymnasium geeignet. Seitenweise Schülerbeobachtungen müssen verfasst werden, die möglichst mit Datum und genauer Situation bis ins Detail das Verhalten und Vermögen des Schülers dokumentieren. Ungeheuer vieles muss inzwischen schriftlich festgehalten werden, als Lehrer entkommt man dem einfach gar nicht mehr. Insbesondere, wenn potenziell Ärger aufgrund schulischer Probleme in der Zukunft vermutet wird. Die Aufzeichnungen sollen dann belegen, dass man rechtzeitig und umfassend informiert, die Schwächen und Defizite des Kindes erkannt und genau dargelegt hat, und welche Unterstützungsmaßnahmen eingeleitet wurden.
    So war es wohl auch im Sinne der Schule, die Noten in der zweiten Klasse wieder einzuführen, und deshalb werden wohl auch keine Lernzielkontrollen, sondern eben Proben geschrieben, damit wirklich alle Eltern frühzeitig wissen, wo ihr Kind „steht“. Für die Benotung gab es dann auch ganz klare Anweisungen. Als Lehrerin einer zweiten Klasse wurde meinen Kollegen und mir vonseiten der damaligen Schulleitung deutlich gesagt, wir sollten doch die Notenskala ausschöpfen: Wir hätten auch in den unteren Klassen alle Noten von Eins bis Sechs
zu vergeben. Es dürfe nicht sein, dass der Lehrer, der die Klasse ab dem dritten Schuljahr übernehmen würde, der Buhmann sei und dann die Probleme mit den Eltern habe, wenn die Noten dann plötzlich schlechter werden würden. Vielmehr müsse es auch in der zweiten Klasse schon schlechte Noten geben, damit die Eltern jetzt schon über das „Leistungsvermögen“ ihres Kindes informiert wären. Eltern würden ihre Kinder oft überschätzen oder Potenzial in ihnen sehen, das einfach nicht vorhanden sei. Deshalb solle man schon möglichst früh die Grenzen des Kindes aufzeigen und über Probleme und Schwierigkeiten informieren. Eltern bräuchten Zeit, um sich an den Gedanken zu „gewöhnen“, welche Schule für ihr Kind richtig sei.

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