Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
da und wir können es nutzen!
Was uns am Erinnern hindert
Viele dieser Ideen zu einem Lebensrückblick oder zur Biografiearbeit beziehen sich darauf, den Reichtum des Lebens noch einmal in die Erinnerung zurückzuholen. Das sind Ressourcen, die auch als Ressourcen für die Zukunft genutzt werden können. Einigermaßen einverstanden zu sein mit dem Leben, das man gelebt hat, und die Möglichkeit, sich immer wieder an wichtige, auch freudige Situationen zurückerinnern zu können, gibt ein gutes Lebensgefühl von Sinnhaftigkeit und auch Reichtum des Lebens. Diese Gefühle helfen, auch die letzte Wegstrecke nicht nur unter dem Aspekt der Angst und des Verlusts zu sehen.
Ein anderer Aspekt des Rückblicks bezieht sich mehr auf die Frage, wie man denn geworden ist, oder aber auch, wie man etwas nicht geworden ist, das man eigentlich werden wollte.
Manchmal findet man eine Erklärung, die einem hilft, besser zu leben – manchmal auch nicht. In der Regel können wir uns leichter erinnern, wenn wir Ideen haben, wie wir unsere Erinnerungen wieder beleben und abrufen können. Denn wenn die Erinnerungen erst einmal in Fluss kommen, dann folgen ihnen immer mehr.
Es gibt aber auch Situationen, die wir partout nicht erinnern können, oder Situationen, die wir zwar noch schwach erinnern, von denen wir uns aber rasch wieder abwenden. Es sind Situationen, die uns noch in der Erinnerung peinlich sind oder die noch immer Scham- und Schuldgefühle in uns wecken.
Scham- und Schuldgefühle werden oft in einem Atemzug genannt, obwohl sie sich unterscheiden. Schuldgefühle beziehen sich eher auf etwas, das wir tun, getan oder unterlassen haben. Schamgefühle betreffen uns selbst, unser Sosein, unser Gewordensein. Leicht werden Schamgefühle mit Schuldgefühlen abgewehrt, weil diese weniger unangenehm sind und man sich immerhin entschuldigen kann. ›Entschämen‹ kann man sich nicht, aber man kann lernen, mit der Scham umzugehen.
Gefühle der Scham hindern uns am Erinnern, Gefühle der Schuld halten uns bei bestimmten Erinnerungen fest. Sie lassen einen umfassenderen Rückblick nicht zu und versperren auch den Weg zu neuen Plänen, Wünschen und Absichten. Insofern stellen sich Scham- und Schuldgefühle vor unsere Erinnerungen, oft sind sie die Ursache für Blockaden beim Lebensrückblick. Daran ist zu denken, wenn Menschen zwar in vielfacher Weise auf ihr Leben zurückblicken möchten, dabei aber immer wieder Schwierigkeiten haben, einen Zugang zu ihrer Geschichte zu finden.
Schamgefühle
Auf die Frage nach der ersten scheuen Liebesbeziehung wehrt eine 70-Jährige heftig ab: »Dieses Thema will ich partout nicht!« Die anderen Gruppenmitglieder sprechen von ihrem ersten Schatz im Kindergarten, davon, dass sie ihr das Pausenbrot gegeben haben, vom Schulschatz, von den ersten scheuen Küssen: »Dass ihr euch nicht schämt!« Niemand schämt sich, es gibt auch nichts, dessen man sich schämen müsste.
Schämen wir uns, geht dem voraus, dass wir uns plötzlich bloßgestellt fühlen oder uns selber bloßstellen. Gegen den eigenen Willen kommt etwas ans Licht, das wir verborgen halten wollten, sei es, weil es etwas Schattenhaftes 60 ist, etwas in unserer Sicht Unstatthaftes oder Schlechtes. Oder weil es im Gegenteil etwas besonders Kostbares, Schönes ist, was nicht gesehen werden darf, damit es nicht zerstört wird, etwas, das nur für uns selber gedacht ist und mit dem Kern unserer Persönlichkeit zusammenhängen mag. Als beschämter Mensch möchten wir in den Boden versinken oder auf einem anderen Planeten sein. Wir senken den Kopf, schlagen die Augen nieder, erröten oder erbleichen. Wir können die Scham auch mit Wut beantworten: Jemand hat unsere Grenzen verletzt – und darauf reagieren wir mit Ärger.
Wir Menschen wollen etwas vor den anderen verbergen – und ein anderer Mensch sieht gerade, was wir verbergen wollen und spricht es an. Es braucht den Blick des anderen auf uns oder auf etwas in uns, das wir für uns selber behalten wollen. Wir fühlen uns ertappt, sind in einer Situation nicht so kompetent, wie wir eigentlich sein wollen. Oder wir spielen uns in den Vordergrund: Doch statt bewundert zu werden, was wir dringend bräuchten, werden wir ausgelacht, Schadenfreude breitet sich aus. 61
Es gibt viele Gründe, sich zu schämen:
Körperscham, sexuelle Scham, ungewollte Nacktheit wird oft als erstes mit Scham assoziiert: Intimitätsscham. Dazu gehört die Frage nach allem, was für uns »intim« ist – etwa die Frage
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