Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
anderen Menschen nicht zu beschämen. Oder etwa nicht?
Über das »Schäme dich!« hinaus, das uns einpassen soll in die Werte einer bestimmten Gruppe, gibt es das ›Be-Schämen‹, das weit bedeutsamer ist: Absichtlich wird der andere Mensch bloßgestellt, ein Angriff auf sein Selbstwertgefühl ausgeführt. Der andere soll vernichtet werden. Haben wir Vorurteile, dann beschämen wir Menschen, indem wir ihnen ihre Individualität absprechen, mit ihnen nicht oder nicht mehr im Dialog sein wollen.
Diese so Beschämten fühlen sich ohnmächtig, reagieren mit großer Wut oder mit großer Resignation.
Wer über sein Leben sprechen will oder Aspekte seines Lebensrückblicks anderen zugänglich macht, setzt sich kritischen Augen aus. Das mag real so sein, Häme aus Neid ist ja nicht so selten anzutreffen. Es genügt aber auch, dass wir uns die kritischen Blicke der anderen vorstellen und uns dann schon beschämt fühlen oder eben nichts von dem, was uns wichtig ist, anderen Menschen zeigen. Natürlich kann man sich auch akzeptierende, wohlwollende Blicke vorstellen: Mit dieser Vorstellung, wenn sie denn gelingt, kommen wir über Scham-Attacken hinweg und können uns öffnen.
Schäme dich – du solltest dich schämen: Ein Schamkomplex
Die Scham legt sich über unsere Lebenserinnerungen. Wir wollen dann einfach nicht mehr an das Beschämende denken, sind identifiziert mit dem kritischen Blick und nicht in der Lage, uns auch mit einem freundlichen Blick zu betrachten. Auch wenn wir uns bewusst vielleicht gar nicht schämen: Ein Lebensgefühl der Vergeblichkeit und des Ungenügens bestimmt die Lebensatmosphäre. Gelingt es, eine ›Komplexepisode‹ für dieses Problem zu finden, kann daran gearbeitet werden.
Ein 75-jähriger Mann, dem sehr vieles aus seiner Lebensgeschichte peinlich war und der darunter litt, dass er fast nichts erinnern konnte, erzählte im Zusammenhang mit Scham eine sogenannte ›Komplexepisode‹:
»Mein Vater sagte immer wieder, nicht nur zu mir, sondern auch zu meinen Geschwistern: ›Was denkt wohl der Herr Pfarrer, wenn er vernimmt, was ihr wieder angestellt habt.‹ Der Herr Pfarrer konnte ersetzt werden durch den Herrn Lehrer, durch die Nachbarin, durch den Herrgott. Der Vater gab uns das Gefühl, absolut untauglich zu sein, bösartig, dumm – und wir sollten uns schämen. Ich jedenfalls schämte mich immer, wusste aber eigentlich nicht, wofür. Ich versuchte, sehr angepasst zu sein – aber es nützte nichts, hat mir aber mein Selbstbewusstsein kaputt gemacht und mir die Lebensfreude genommen. Eigentlich hatte ich ständig Angst, etwas falsch zu machen und dann dafür bloßgestellt zu werden. Heute denke ich, der Vater war selber so selbstunsicher. Später habe ich selber diese Gedanken gehabt: Wenn ich etwas Riskantes machen wollte, dann dachte ich immer daran, was wohl ›die anderen‹ dazu sagen würden.«
Hier wird eine Komplexepisode geschildert, eine prägende Erfahrung, die emotional beeinträchtigend war: Angst etwas falsch zu machen, ein schlechtes Selbstwertgefühl und fehlende Lebensfreude – eine große Beeinträchtigung der Lebensqualität wird mit diesen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Diese emotionalen Beziehungserfahrungen prägen die Erinnerung; denn auch emotional anders gelagerte Erfahrungen, etwa Situationen, in denen das Kind ermutigt wurde, werden von diesen Komplexerfahrungen zugedeckt. Und auch die Zukunft steht unter der Wirkung dieser prägenden, eingebrannten Erfahrungen: So ist das Leben, es wird immer so sein, es gibt keine Veränderung! Menschen sind mir immer so begegnet, Menschen werden mir immer so begegnen. Diese Komplexepisoden werden mit dem Episodengedächtnis verinnerlicht. Es ist eine Beziehungsepisode, verinnerlicht werden beide Pole der Beziehung.
So kann dieser Mann sich selbst so anreden, wie ihn früher sein Vater angeredet hat: Er fragt sich, was die anderen wohl denken. Er meint, er müsse sich schämen Das heißt natürlich nicht, dass es nicht Situationen gibt, die durchaus Anlass zu Schamempfinden geben. Haben wir aber in diesem Bereich einen Komplex, dann sagen wir uns das sehr, sehr oft – und wagen nicht mehr, unsere Wünsche auszudrücken, unsere Pläne zu realisieren. Wir werden gehemmt, vielleicht sogar depressiv.
Wer eine solche Scham-Komplexepisode verinnerlicht hat, wird sich aber auch mit der Angreiferseite identifizieren: Das heißt, er wird anderen Menschen ziemlich schnell zu verstehen geben, dass sie sich
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