Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
nach Religiosität, wenn man sie mit dem fragenden Menschen nicht erörtern will, weil man sie für zu intim hält.
Wir schämen uns auch, wenn wir Freude zeigen, und diese Freude von den anderen Menschen nicht für unsere Erwartung adäquat beantwortet, nicht wahrgenommen oder gar lächerlich gemacht wird. Sind wir zu lange von anderen Menschen abhängig und bleiben daher unselbständig, erfüllt uns das insgeheim mit Scham, oder aber wir sind zu eigenwillig – werden missbilligend darauf angesprochen, und wir schämen uns. Das Ausgeschlossensein aus einer Gruppe, der man gerne zugehören möchte, wird als schamerregend empfunden: Wir sind offenbar nicht ansehnlich genug, um in dieser Gruppe akzeptiert zu werden.
Zur Scham in der Beziehung gehört, dass wir dem Partner oder der Partnerin nicht gerecht werden, ihn oder sie abwerten, böse Fantasien nähren. Nach dem Tod von Beziehungspersonen zeigt sich Scham in der Trauerarbeit als ein großes Bedauern darüber, dass wir sehr viel Liebe für selbstverständlich genommen haben, dass wir zu sehr nur uns selber im Blick gehabt haben, zu egozentrisch waren. Nachträglich wünscht man sich, dankbarer gewesen zu sein.
Selbstverwirklichungsscham erfasst Menschen, wenn sie darauf gestoßen werden, dass sie zu wenig aus ihrem eigenen Leben gemacht haben, dass sie zu wenig eine eigene Handschrift entwickelt haben.
Besonders schwierig ist es, mit der Existenzscham oder der primären Scham umzugehen. Kinder, die so ganz und gar nicht gewollt waren, die allenfalls ein verstorbenes Geschwister ersetzen mussten, 62 sprechen von der tiefen Scham, überhaupt zu existieren. Salvador Dali ist mit dieser Scham so umgegangen, dass er kreativ wurde – und sich so eine Daseinsberechtigung geschaffen hat, die man normalerweise als Kind von den Eltern einfach bekommt, indem sie sich über das Kind freuen.
Situationen, in denen wir uns geschämt haben, gehören zu unserem Lebensrückblick: Das ist mir noch heute so peinlich, sagen wir dann. Oder aber es ist dermaßen peinlich, dass wir es schon gar nicht erinnern mögen. Manche Biografiearbeit kommt zum Erliegen, weil zu viele Erinnerungen schambesetzt sind, und man sich dann einfach nicht mehr erinnern will. Auch Situationen, in denen wir andere beschämt haben – wissentlich und willentlich oder ungewollt, sind uns in der Erinnerung peinlich: Wir bedauern sie. Wahrscheinlich beschämen wir andere Menschen – ungewollt – weit häufiger, als wir es denken. Was will diese Scham eigentlich?
Schäme dich!
Unerwünschtes Verhalten wird schon sehr früh in unserem Leben entweder nicht mit einem Lächeln, also einer Anerkennung, belohnt – oder mit einem eindeutigen »Schäme dich!« unterbunden. So lernen wir, was »gesellschaftlich« akzeptiert ist, welche Werte gelten sollen in einer Gemeinschaft, und was verpönt ist. So entstehen die »Persona«, das, was wir zeigen, und der »Schatten«, das, was wir verdrängen. Wird das, was wir gerne im Dunkeln lassen, von anderen Menschen ans Licht gezerrt, dann schämen wir uns.
Ich schäme mich
Wir zeigen etwas von uns, das zu »intim« ist, zu persönlich, das wir eigentlich schützen wollen, weil dieses uns so Wichtige nicht der Welt und damit auch den immer irgendwie gearteten Blicken – auch etwa den Blicken des Neides – ausgesetzt werden soll. Wir entfremden uns von uns selbst, wenn wir dieses innere Kostbare nach außen preisgeben. Hat uns dennoch jemand verführt, haben wir uns verführen lassen, dennoch etwas zu benennen, was in der Relation zu der jeweiligen Beziehung zu intim ist, können wir uns für uns selber schämen. Diese Form der Scham hat den Sinn, uns darauf hinzuweisen, dass wir sorgfältig darauf achten, mit welchen Menschen , in welchen Situationen wir unsere intimen Kostbarkeiten teilen, aber auch, dass es Kostbares in uns gibt, das es zu schützen gilt. Scham ist in der jeweiligen Beziehung ein Schutz für das Eigene.
Wir werden auch beschämt von großer Güte, von der Großherzigkeit anderer Menschen, besonders dann, wenn wir in diesem Lebenszusammenhang selbst weit hinter unseren Möglichkeiten oder unseren Ansprüchen zurückbleiben. Die großherzige Tat des anderen zeigt mir dann, wie mickrig ich selber doch bin – und das löst Scham aus.
Ich kann mich schämen, werde aber auch beschämt. Wenn wir wissen, dass wir uns schämen können, dann wissen wir auch, wie Scham sich für einen anderen Menschen anfühlt. Wir werden darauf achten, den
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