Wasdunkelbleibt
schien eine Lehrerin zu sein. Sie sammelte ihre Schäfchen um sich.
»Hallo!« Freiflug stellte sich neben das Mädchen, das sich mit einem Tempo über die Wangen tupfte. »Du warst Bastians Freundin, oder?«
»Und Sie? Wer sind Sie?«
Sie hatte diesen schnippischen Tonfall, den Freiflug nicht mochte, aber zur selben Zeit mit einem gewissen Neid zur Kenntnis nahm. Das Selbstbewusstsein der jungen Generation wurde weder von einer Beerdigung noch von völlig verhunzter Schminke zerrüttet. Das war zu seiner Zeit anders gewesen: Die Jungs waren rot geworden und die Mädchen hatten den Kopf gesenkt.
»Markus. Ein entfernter Kumpel von Bastian.«
Sie sah ihn argwöhnisch an. »Einer von denen?«
»Wenn du so willst …« Ihm fiel auf, dass er sie hätte siezen müssen. »Gehst du mit zum Leichenschmaus?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Verdammt, der Wind kühlte Freiflug dermaßen aus, dass er sich Keas Schal wie einen Turban um den Kopf wickelte. Das Mädchen versuchte ein Lächeln. »Sieht ziemlich freakig aus.«
»Wenn ich dich zu einem Kaffee einlade …« Er bemerkte ihr Zaudern sofort. »Gleich die Straße runter, bei Tchibo?«
»Na gut.«
Die anderen Jugendlichen waren längst weg. Freiflug sah zurück zum Grab. Der Anblick der drei Trauernden in den schwarzen Mänteln, die wie Riesenkrähen im Schnee standen und zusahen, wie mehr und mehr Flocken in die Grube, auf das Bouquet und die vielen Kränze rieselten, war frustrierend.
51
Sie standen an einem Tisch im hinteren Teil des kleinen Cafés, direkt neben der Kaffeemaschine.
Sarah, so hieß das Mädchen unter der rosa Häkelmütze, rührte in ihrer Schokolade. Freiflug versuchte es mit schwarzem Kaffee, aber die Brühe kam ihm sofort hoch. Er biss stattdessen in ein Stück Streuselkuchen. Wartete einfach ab. Irgendwann, wenn die Wärme in Sarahs Knochen geschlüpft war, würde sie den Mund aufmachen. Und reden. Heulen. Freiflug kannte das. Es spielte sich immer gleich ab. Zu reden bedeutete für jeden Menschen eine solche Erleichterung, dass kaum jemand der Versuchung widerstehen konnte, einfach alles rauszulassen. Wer machte in seinem Alltag schon die Erfahrung, dass man ihm zuhörte? Das war genau der Punkt, der Markus Freiflug mitunter sauer aufstieß. Als Ermittler brachte er Menschen zum Reden – doch er selbst sprach überhaupt nicht über die Dinge, die ihn bewegten. Diese Verweigerungshaltung ging soweit, dass er in seinem Inneren etwas brodeln spürte, ohne zu ahnen, was es war. Er kannte sich selbst und seine Geister kaum. Machte aus seinem Herzen eine Mördergrube. Irgendwann würde er so enden wie Nero: auf einer Intensivstation, umgeben von Schläuchen und medizinischer Hochtechnologie, die seine organischen Funktionen am Leben hielten, während im Herzen – nicht in der Muskelpumpe, sondern im tiefen, echten, roten Herzen – alles schwieg.
»Hat man euch gesagt, woran Bastian gestorben ist?«
»Uns?« Sarah zog die Mütze vom Kopf. Dichtes schwarzes Haar sank auf ihre Schultern.
»Deiner Klasse.«
»Ich bin nicht in Bastians Jahrgang. Ich bin nicht mal an seiner Schule.« Endlich legte sie den Löffel beiseite und sah Freiflug an. »Ich gehe bloß auf die Realschule!«
Freiflug bewunderte Sarahs Oliventeint. Er mochte südliche Frauen. Ob sie mit Bastian geschlafen hatte?
»Woher kennst du Bastian?«
»In Ohlkirchen kennen sich eigentlich alle. Es gibt im Ort eine Menge Gerüchte über Bastian. Sie sagen, er hätte irgendwas in seinem Gehirn gehabt. Eine Ader, die am Platzen war. So ähnlich.«
»Wusste er das selbst nicht?«
Sarah sah ihn misstrauisch an. »Warum willst du das wissen?«
»Ich kannte Bastian ganz gut«, log er. »Aber er hat nie darüber geredet. Über das Aneurysma, meine ich.«
»Mit mir auch nicht.«
Freiflug dachte an die Schachtel mit den Kondomen in seiner Tasche. Hatten sie oder hatten sie nicht?
»Mit gegenüber hat Bastian immer so getan, als machte er sich nichts aus Mädchen und Beziehungen. Wenn ich gewusst hätte, dass er eine Freundin hat …«
»Ich bin nicht seine Freundin.« Sarah stützte die Ellenbogen auf den Bistro-Tisch und barg ihr Gesicht in den Händen. Sie schluchzte leise, riss sich zusammen und sah Markus direkt an. »Wir haben nur geredet und so. Über Gott und die Welt. Was uns ankotzt. Wie wir leben wollen. Solche Sachen.«
»Bastian war ziemlich idealistisch, nicht wahr?«
»Er hat mir gesagt, dass die meisten Hacker so drauf sind.« Sie senkte die Stimme.
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