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Wasdunkelbleibt

Wasdunkelbleibt

Titel: Wasdunkelbleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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»Sie sind so eine Art Putzkolonne für die Cyberwelt.«
    Freiflug schluckte. Als er in Sarahs Alter gewesen war, hatte die 89er-Wende Europa revolutioniert. Die damalige Aufbruchstimmung suggerierte die schnelle Lösung aller Konflikte. Frieden und Freiheit. Stattdessen war alles nur chaotischer geworden. Niemand blickte mehr durch. Wahrscheinlich waren Jugendliche wie Bastian die einzigen, die ein bisschen verstanden, wie das Chaos funktionierte.
    »Wir haben zusammen die Wikileaks-Sachen durchgesehen und uns ein paar Gedanken gemacht über die Gegenangriffe.«
    »Gegenangriffe?«
    »Über diejenigen, die alles attackieren, was dem Wikileaks-Projekt hilft. Ich meine, es ist wie ein Krieg. Und dann wieder wie ein Actionfilm. Total unwirklich.«
    Freiflug kam in den Sinn, wie er am ersten Weihnachtsfeiertag 1989 den weiten Weg von München in ein schauerlich verschneites Hof gefahren war, um ein paar Stunden in der DDR herumzukurven – nur um mal zu gucken. Tausende andere waren an jenem Tag, als auch für die Westbürger die Mauer gefallen war, auf dieselbe Idee gekommen. Alle waren bester Laune und einfach glücklich. Die Ostler verschenkten Schokolade und verteilten Begrüßungsbratwürste. Ein Rummel wie auf einer Kirchweih.
    »Bastian sagte, es gebe kaum saubere Informationen in den Medien. Allein die Hacker hätten die Mittel, herauszufinden, wer welche Info mit welchem Zweck im Internet verbreitet«, riss Sarah ihn aus seinen Gedanken.
    Freiflug hatte sich mit dem Hype um Wikileaks nicht näher befasst. Er hielt wenig von spektakulären Medienstunts. Wem die Veröffentlichungen in letzter Konsequenz dienten, konnte er nicht durchschauen. Denunziantentum stieß ihn ab. Die Vorstellung, alle Informationen seien für alle Menschen zugänglich, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken.
    »Mochtest du Bastian?«
    »Und wenn?«
    »Hat er dir erzählt, wo er dran war? War er ein Teil der ›Putztruppe‹?«
    Sarah schob die Tasse mit der kalt gewordenen Schokolade von sich. »Er war einfach anders, als die Jungs hier sonst so sind. Bastian, meine ich. Der hatte wenigstens Themen. Dem ging es um was. Nicht nur darum, wie er ein Mädchen ins Bett kriegt. Und dann eine andere und noch eine andere. Bastian wollte was verändern.«
    Nicht neu, dachte Freiflug verächtlich. Da war diese Kluft zwischen den hochtrabenden Träumen des Freibeuters, die Welt zu retten, aber dann allzu bald den Versuchungen der banalen Realität zu erliegen und Daten aus einem Fitnessstudio zu klauen. Für schnöden Mammon. Mochten die Leute von Wikileaks auch einen kleinen Erdrutsch ausgelöst haben – die Regierungen würden sehr schnell einschreiten und mit subtilen Mitteln nach und nach sicherstellen, dass gewisse Lecks abgedichtet wurden. Wir leben in einer Diktatur, fuhr es Freiflug durch den Kopf. In einer Diktatur aus Informationsbeständen, die von brutalen Kampfhunden bewacht werden, denen man jeden natürlichen Instinkt für Solidarität, Gerechtigkeit und Menschlichkeit weggezüchtet hat. Seit beinahe zehn Jahren, seit das World Trade Center nach einer ungeheuerlichen Attacke zu Staub zerfallen ist, rotieren die Regierungen. Es geht nur noch darum, dass die Großmächte die Welt unter sich aufteilen. Im Prinzip nicht anders als früher. Pfründe gegen Vielfalt, Eliten gegen Massen, Kapital gegen Fantasie. Die Freiheit des einzelnen wird eliminiert, dafür bekommt der Bürger der Neowelt Breitbildfernsehen, zur Not Wohngeld und einen Gutschein für den Klavierunterricht der Tochter. Armenspeisungen, die verhindern sollen, dass einer zu genau nachfragt. Vermutlich waren tatsächlich Hacker die letzten echten Friedensaktivisten. Weil es heutzutage nicht mehr genügte, im armeegrünen Parka gegen die Startbahn West anzumotzen.
    »Bist du einer von denen?«, fragte Sarah. »Ein Hacker, meine ich?« Ihre schwarzen Augen blickten Freiflug warm an.
    Sie glaubt noch daran, dass das Gute siegt, dachte Freiflug. Das ist der Unterschied zwischen uns.
    »Du bist keiner von ihnen.« Sie stülpte sich die rosa Mütze über das Haar. »Du bist Polizist.«
    Freiflug senkte für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Ertappt. Es war ihm peinlich. Er hätte sie nicht anlügen sollen.
    »Wir kommen aus Aserbaidschan«, sagte Sarah. »Mein Vater war dort Journalist, hat Ärger mit der Polizei bekommen. Vor fünf Jahren sind wir nach Deutschland geflohen und haben Asyl gekriegt.« Sie schloss den Reißverschluss ihrer Jacke.

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