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Washington Square

Washington Square

Titel: Washington Square Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Bekanntschaft gemacht.«
    |95| »Gewiß, es ist noch nicht lange her«, sagte Morris sehr gemessen. »Ich gebe zu, daß wir nicht gerade langsam zu – zu einem Einverständnis gekommen sind. Aber das war nur natürlich von dem Moment an, als wir unser selbst – und des andern – sicher waren. Mein Interesse an Miss Sloper erwachte gleich, als ich sie zum ersten Mal sah.«
    »Ging es nicht zufällig Ihrer ersten Begegnung voraus?« fragte der Doktor. Morris sah ihn einen Augenblick an. »Sicher hatte ich schon gehört, daß sie ein reizendes Mädchen sei.«
    »Ein reizendes Mädchen – ist sie das Ihrer Ansicht nach?«
    »Zweifellos. Andernfalls würde ich nicht hier sitzen.«
    Der Doktor überlegte einen Moment. »Mein lieber junger Mann«, sagte er schließlich, »Sie müssen sehr leicht beeindruckbar sein. Als Catherines Vater habe ich, wie ich glaube, eine ehrliche und liebevolle Einschätzung ihrer zahlreichen guten Eigenschaften; aber ich zögere nicht, Ihnen zu versichern, daß es mir nie in den Sinn gekommen ist, sie für ein reizendes Mädchen zu halten, und ich habe auch nie von jemand anderem erwartet, daß er das tut.«
    Morris Townsend nahm diese Feststellung mit einem Lächeln auf, das nicht ganz frei von gespielter Unterwürfigkeit war. »Ich weiß nicht, was ich von ihr denken würde, wenn ich ihr Vater wäre. Ich kann mich nicht an diese Stelle versetzen. Ich spreche von meinem eigenen Standpunkt aus.«
    »Sie sprechen sehr gut«, sagte der Doktor, »aber damit ist es nicht getan. Ich habe Catherine gestern deutlich gemacht, daß ich ihre Verlobung mißbillige.«
    »Das hat sie mich wissen lassen, und ich habe es mit |96| großem Bedauern vernommen. Ich bin zutiefst enttäuscht.« Und Morris saß eine Weile schweigend da und blickte zu Boden.
    »Hatten Sie tatsächlich erwartet, ich würde sagen, daß ich entzückt sei, und würde Ihnen meine Tochter in die Arme werfen?«
    »O nein; ich hatte den Eindruck, daß Sie mich nicht mögen.«
    »Was hat Sie auf diesen Gedanken gebracht?«
    »Der Umstand, daß ich unbemittelt bin.«
    »Das klingt recht herb«, sagte der Doktor, »aber es entspricht ungefähr der Wahrheit – wenn ich von Ihnen streng genommen als Schwiegersohn spreche. Daß Sie keine Mittel, keinen Beruf, keine sichtlichen Hilfsquellen oder Anwartschaften haben, reiht Sie in eine Kategorie ein, die es für mich unklug erscheinen läßt, aus ihr einen Ehemann auszuwählen für meine Tochter, die eine unselbständige junge Frau mit einem großen Vermögen ist. Ich bin durchaus bereit, Sie in jeder andern Stellung zu akzeptieren. Als Schwiegersohn habe ich Sie ganz und gar nicht gern.«
    Morris Townsend hörte respektvoll zu. »Ich glaube nicht, daß Miss Sloper eine unselbständige Frau ist«, versetzte er unverzüglich.
    »Sie müssen sie natürlich verteidigen – das ist das mindeste, was Sie tun können. Aber ich kenne mein Kind jetzt schon zwanzig Jahre lang und Sie erst seit sechs Wochen. Doch selbst, wenn sie nicht unselbständig wäre, blieben Sie immer noch ein völlig mittelloser Mann.«
    »Ach ja; das ist
meine
Schwäche! Und deshalb glauben Sie, ich wäre gewinnsüchtig – ich würde nur das Geld Ihrer Tochter wollen.«
    »Das sage ich nicht. Ich bin nicht genötigt, das zu |97| sagen; und es zu sagen, außer wenn man unter Zwang steht, wäre sehr schlechter Stil. Ich sage lediglich, daß Sie zur falschen Kategorie gehören.«
    »Aber Ihre Tochter heiratet schließlich keine Kategorie«, wandte Morris Townsend mit einem gefälligen Lächeln ein. »Sie heiratet eine Person – eine Person, der sie gütigerweise sagte, sie liebe sie.«
    »Eine Person, die so wenig dafür bietet.«
    »Kann man mehr bieten als die liebevollste Zuneigung und eine lebenslange Ergebenheit?« fragte der junge Mann.
    »Es kommt darauf an, wie man es nimmt. Es ist möglich, außerdem noch einiges zu bieten, und es ist nicht nur möglich, sondern üblich. Eine lebenslange Ergebenheit wird nachträglich beurteilt. Und in diesen Fällen ist es üblich, mittlerweile einige materielle Sicherheiten zu bieten. Welche haben Sie? Ein sehr hübsches Gesicht, eine gefällige Figur und sehr einnehmende Manieren. Das ist vorzüglich, soweit es reicht, aber es reicht nicht weit genug.«
    »Es gibt noch etwas, was Sie hinzufügen sollten«, sagte Morris, »das Wort eines Gentleman.«
    »Das Wort eines Gentleman, daß Sie Catherine immer lieben werden? Sie müssen ein ganz hervorragender Gentleman sein, wenn Sie sich

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