Washington Square
braucht gar nicht lang, um jemanden liebzugewinnen – wenn man erst einmal damit begonnen hat.«
»Du mußt sehr geschwind damit begonnen haben. War es gleich beim ersten Mal, als du ihm begegnet bist – an dem Abend bei der Gesellschaft deiner Tante?«
»Ich weiß nicht, Vater«, antwortete das Mädchen. »Ich kann dir darüber nichts sagen.«
»Natürlich; das ist deine eigene Angelegenheit. Du wirst bemerkt haben, daß ich nach diesem Grundsatz gehandelt habe. Ich habe mich nicht eingemischt; ich habe dir deine Freiheit gelassen; ich habe bedacht, daß du kein kleines Mädchen mehr bist – daß du die Jahre der Besonnenheit erreicht hast.«
»Ich fühle mich sehr alt – und sehr weise«, sagte Catherine mit mattem Lächeln.
»Ich fürchte, daß du dich in absehbarer Zeit noch älter und weiser fühlen wirst. Dein Verlöbnis gefällt mir nicht.«
»Ach!« rief Catherine zaghaft und erhob sich von ihrem Stuhl.
»Nein, meine Liebe. Es tut mir leid, dir weh zu tun; aber es gefällt mir nicht. Du hättest mich zu Rate ziehen sollen, bevor du das abgemacht hast. Ich war zu großzügig |90| dir gegenüber, und ich habe den Eindruck, als hättest du meine Nachsicht ausgenützt. Ganz fraglos hättest du zuerst mit mir sprechen sollen.«
Catherine zögerte einen Augenblick und gestand dann: »Es war, weil ich Angst hatte, du würdest es nicht wollen.«
»Aha, da haben wir’s! Du hast ein schlechtes Gewissen gehabt.«
»Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen, Vater!« stieß das Mädchen mit bemerkenswerter Energie hervor. »Bitte wirf mir nicht etwas so Fürchterliches vor!« Diese Worte bedeuteten tatsächlich ihrer Vorstellung nach etwas geradezu ungemein Furchtbares, etwas Verächtliches und Grausames, was sie mit Einbrechern und Sträflingen in Verbindung brachte. »Es war, weil ich Angst hatte – Angst –«, fuhr sie fort.
»Wenn du Angst hast, dann deshalb, weil du töricht warst.«
»Ich hatte Angst, du könntest Mr. Townsend nicht mögen.«
»Da hattest du völlig recht. Ich mag ihn nicht.«
»Lieber Vater, du kennst ihn nicht«, sagte Catherine in einem so ängstlich überredenden Ton, daß es ihn hätte rühren müssen.
»Sehr richtig; ich kenne ihn nicht genauestens, aber ich habe einen Eindruck von ihm gewonnen. Du kennst ihn auch nicht.«
Sie stand vor dem Feuer, die Hände leicht vor sich verschränkt; und ihr Vater, der in seinem Sessel zurückgelehnt war und zu ihr hinauf sah, machte diese Bemerkung mit einer Gelassenheit, die sie hätte entrüsten können.
Ich bezweifle jedoch, ob Catherine entrüstet war, obgleich |91| sie in einen heftigen Protest ausbrach. »Ich soll ihn nicht kennen?« rief sie. »Oh, ich kenne ihn – besser als ich jemals irgend jemanden gekannt habe!«
»Du kennst einen Teil von ihm – das, was er dir zeigen wollte. Aber du kennst das übrige nicht.«
»Das übrige? Was ist das übrige?«
»Was es auch sein mag, es ist sicher eine ganze Menge.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Catherine, die sich daran erinnerte, wie Morris sie vorher gewarnt hatte. »Du glaubst, er sei gewinnsüchtig.«
Ihr Vater sah noch immer zu ihr hinauf, mit seinen kalten, ruhigen, verständigen Augen. »Wenn ich diese Meinung hätte, meine Liebe, dann würde ich es sagen! Doch den einen Fehler möchte ich unbedingt vermeiden – nämlich, daß ich dir Mr. Townsend noch interessanter mache, indem ich harte Worte über ihn sage.«
»Ich werde sie nicht hart finden, wenn sie wahr sind«, entgegnete Catherine.
»Wenn das zutrifft, bist du eine bemerkenswert verständige junge Frau!«
»Jedenfalls werden es deine Gründe sein, und du wirst gewiß wollen, daß ich deine Gründe höre.«
Der Doktor lächelte ein wenig. »Ganz richtig. Es ist dein gutes Recht, nach ihnen zu fragen.« Und er paffte eine kleine Weile seine Zigarre. »Nun gut, also; ohne Mr. Townsend zu beschuldigen, er sei lediglich in dein Vermögen verliebt – und in das Vermögen, das du zu Recht erwartest – möchte ich sagen, es bestehe aller Grund zu der Annahme, daß diese angenehmen Dinge in seiner Berechnung mehr Raum einnehmen, als das eine liebevolle Sorge für dein Glück nun geradezu erfordert. Natürlich ist es nicht unmöglich, daß ein intelligenter |92| junger Mann eine selbstlose Neigung zu dir unterhält. Du bist ein aufrichtiges, gutherziges Mädchen, und ein intelligenter junger Mann kann das leicht herausfinden. Aber das Entscheidende, das wir über diesen jungen Mann wissen – der in der
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